Ausgeliebt
sonst würden wir uns in diesem Jahr überhaupt nicht mehr sehen.
|197| Als ich zu dem verabredeten Stand kam, wartete sie schon auf mich. Sie war aufgedreht, ihre Augen strahlten, nach einer kurzen
Begrüßung platzten die Neuigkeiten aus ihr heraus.
»Christine, ich habe einen Mann kennen gelernt, er heißt Thomas, es ist total klasse mit ihm.«
Ich war überrascht, freute mich für sie. »Wo habt ihr euch denn getroffen, wann denn?«
Sie wirkte wie aufgedreht. »Ich habe in der ›Szene‹, weißt du, dieses Stadtmagazin, eine Kontaktanzeige aufgegeben. Stell
dir vor, ich habe zweiundvierzig Antworten bekommen, natürlich auch viel Blödsinn, zu jung, zu alt, verheiratet, kannst du
dir ja denken. Aber Thomas war eben auch dabei. Richtiges Alter, keine Altlasten, größer als ich, wir haben uns verabredet,
ganz romantisch, zum Kaffeetrinken in Blankenese, seitdem läuft es super.«
Fix, dachte ich und fragte nach. »Ja und, wie ist er so, was macht er?«
Nina schob sich mit unruhigen Bewegungen ihre Haare unter die Mütze. »Na ja, er ist Sachbearbeiter, macht irgendwas im Straßenverkehrsamt,
er segelt, er liebt Formel eins, hat tausend Hobbies. Das Wichtigste ist, er hat das Singleleben satt und will eine ernsthafte
Beziehung.«
Ich war irritiert, Nina wurde seekrank und hasste Michael Schumacher. Ich versuchte einen begeisterten Eindruck zu machen.
»Das ist ja schön, wann lerne ich den Wunderknaben denn mal kennen?«
Nina sah etwas angestrengt aus. »Du, das machen wir im neuen Jahr mal. Aber, Christine, nicht dass du was Falsches denkst,
er sieht nicht so besonders aus und, also, über Bücher brauchst du mit ihm auch nicht zu reden, das interessiert ihn nicht
so.«
Jetzt war ich überrascht. »Aber Bücher sind dein Job, Nina, das sollte ihn schon interessieren. Das Aussehen ist ja wirklich
egal.«
Sie lachte etwas künstlich. »Ach, das Lesen bringe ich ihm |198| noch bei, ein bisschen was muss er schon noch lernen, aber ansonsten ist es wirklich toll. Silvester fahren wir zusammen nach
Spiekeroog.«
Zweisamkeit um jeden Preis.
Mich deprimierte Ninas besessener Vorsatz, ihr Singleleben zu beenden, genauso wie das schweigende Paar mir gegenüber. Sie
dachten nicht über ihre Gefühle nach, vielleicht hatten sie auch keine füreinander. Sie holten sich ihre Befriedigung woanders,
neue Möbel, neues Auto, zwei Wochen auf Mallorca. Der Urlaub zu zweit wurde zur Qual, aus der dumpfen Langeweile und den frustrierten
Streitereien wurde der Ansichtskartentext: »Tolles Wetter, tolles Essen, schöne Grüße.«
Wie viel besser war doch, was Richard und ich hatten. Wir sahen uns, weil wir es wollten. Unsere Gespräche dauerten Stunden,
wir hörten einander zu, fassten uns an, wir hatten Lust auf den anderen Körper und den anderen Geist. Keine Minute war verplempert.
Edith musste etwas dazu sagen.
»Ihr seht euch nicht, wann ihr wollt, sondern dann, wenn es bei ihm passt. Es geht hier nicht nur um Gefühle.«
Charlotte erwiderte:
»Es geht aber um viel Gefühl. Er ist das Beste, was dir bisher passiert ist, er tut dir gut. Sieh dich um. Willst du das?«
Ich stand auf und brachte mein Tablett in den dafür gedachten Wagen. Auf dem Weg zum Auto dachte ich an Anke und Werner. Sie
waren seit zwanzig Jahren verheiratet, seit vierzehn Jahren hatte Anke jüngere Liebhaber. Wenn diese ihr das Gefühl gaben,
sie wäre zu alt, ging sie zurück zu Werner, die zwanzig Jahre Altersunterschied ließen sie wieder jünger wirken, anschließend
fing das Spiel wieder an.
Werner litt und dachte nicht drüber nach, er kaufte ein Haus nach dem anderen, vermehrte, sichtbar für alle, seinen Wohlstand,
gab sich dadurch seine Berechtigung. Seine Angst vor |199| einem neuen Leben war anscheinend größer als sein Leidensdruck.
Ich schüttelte diese armseligen Geschichten ab, drehte den Schlüssel im Zündschloss und fuhr wieder auf die Autobahn.
Richards Gesicht schob sich erneut in meine Gedanken.
Wir schliefen immer völlig ineinander verschlungen, mein Rücken vor seinem Bauch, seine Hand auf meiner Brust. Ich spürte
immer noch seine warme Haut, seinen ruhigen Atem in meinem Nacken. Sobald ich von ihm wegfuhr, fehlte er mir.
Das sehnsüchtige Gefühl überkam mich, gefolgt von einer traurigen Welle.
Ich drehte die Lautstärke des Autoradios wieder auf und versuchte mit Hilfe der fröhlichen Weihnachtslieder in eine kindliche
Vorfreude auf die Familienweihnachtsfeier
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