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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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weißen Stoffbahnen. Pater Diggs ging nach hinten, zu einer Backsteinmauer und zu etwas, das wie ein Aquarium aussah. Vorn war es mit einem lilafarbenen Tuch bedeckt. Er rieb sich die Hände. »Nun, hier ist es.«
    Er zog den kleinen Vorhang zurück und knipste einen Schalter an. Bläuliches Neonlicht beleuchtete das Aquarium. Ian presste die Nase an das Glas, und ich musste über seine elektrostatischen Haare hinwegschauen, um etwas zu erkennen. Mitten in dem Kasten lag ein verblasstes blaues Kissen und darauf etwas, das wie ein kleines, weißes, verschrumpeltes Frühstückswürstchen aussah.
    »Er hat noch einen Fingernagel!«, schrie Ian.
    Pater Diggs beugte sich über den Kasten und studierte gemeinsam mit Ian den Inhalt. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich, und lehnte meine Wange an die kühlen Backsteine der Mauer.
    »Nein«, sagte Pater Diggs. »Ich glaube nicht, dass es ein Nagel ist. Ich glaube, der Finger deutet in die andere Richtung.«
    »Warum?« Meine Augen waren geschlossen, ich konnte meinen Pulsschlag hören.
    Pater Diggs schwieg einen Moment. »Ich glaube, ich erinnere mich daran. Ich glaube, sie haben ihn nach Südosten ausgerichtet, zum Heiligen Land hin.«
    »Aber er könnte auch in nordwestliche Richtung zeigen, das wäre auch zum Heiligen Land hin. Nur dass der Weg länger wäre.«
    Pater Diggs kicherte. »Da ist was dran, da ist was dran.«
    »Ich glaube wirklich, dass es ein Fingernagel ist. Miss Hull, schau! Glaubst du nicht auch, dass es ein Nagel ist?« Ich öffnete die Augen, nur um zu sehen, ob Pater Diggs gemerkt hatte, dass Ian mich nicht Mama genannt hatte. Beide starrten durch das Glas, das von Ians Atem beschlagen war. Ich dachte, der Finger könnte in Richtung Kanada, Mexiko, Russland oder Jerusalem zeigen, es machte keinen Unterschied. Es gab keinen sicheren Platz, zu dem man gehen konnte, und es gab keinen sicheren Ort, um eine Pause einzulegen. Was bedeutet ein weisender Finger, wenn nicht: Geh! Lauf! Los!
    »Glaubst du nicht auch?«, fragte Ian noch einmal.
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Pater Diggs schaute mich an. »Oh«, sagte er und packte mich am Arm. »Junger Mann, ich glaube, wir müssen deine Freundin nach draußen bringen.«
    Ian machte das Licht aus, bekreuzigte sich wieder und hob meine Tasche von der Stelle auf, an der ich sie fallen gelassen hatte.
    »Tut mir leid«, sagte ich, während Pater Diggs mich durch die Tür in den Mittelgang bugsierte.
    »Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Die Wahrheit ist, dass wir ihn genau deshalb versteckt halten. Die meisten Menschen wollen nur wissen, dass er da ist, aber sie möchten ihn nicht jeden Tag sehen. Verstehen Sie?«
    Wir gingen durch den Haupteingang hinaus, und die kalte Luft tat mir gut.
    »Du könntest dich in den Schnee legen«, sagte Ian. Er hatte den Riemen meiner Tasche über den Kopf gezogen und einen Arm hindurchgesteckt, und beim Gehen schlug die Tasche gegen seine Hüfte.
    »Mir geht es jetzt schon viel besser.« Ich hoffte, dass die Farbe in mein Gesicht zurückkehrte.
    Pater Diggs hielt mich am Ellenbogen fest und sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie jetzt Auto fahren sollten.«
    »Ich könnte fahren!«, sagte Ian.
    Ich lehnte mich an den Zaun, der den kleinen Friedhof umgab. »Nein, das kannst du nicht.«
    Ich schloss die Augen, und als ich sie wieder aufmachte, stand Pater Diggs direkt vor mir und lächelte. »Warum warten Sie nicht ein bisschen und schnappen frische Luft?«, sagte er. »Ist Ihre Atmung in Ordnung? Schauen Sie, ich zeige Ihnen etwas Lustiges. Sehen Sie das ganze Zeug da unten?« Er deutete vom Hügel hinunter zur Hauptstraße. Ich hatte erst gar nicht wahrgenommen, dass wir auf einem Hügel standen. Etwa anderthalb Kilometer weiter nördlich erhob sich neben der Straße schemenhaft ein Komplex von großen Häusern, die ganz und gar nicht nach Bauernhäusern aussahen, und darum herum parkten Autos und Lastwagen in beiden Fahrtrichtungen. »Das ist der Grenzübergang nach Kanada. Hier endet Amerika.«
    Ian starrte durch die grüne Sonnenbrille hinüber, die er sich wohl gerade aus meiner Tasche gefischt hatte. »Seltsam. Ich habe immer gedacht, da gäbe es eine Mauer oder so was.«
    »Wenn du glaubst, das sei witzig«, sagte Pater Diggs, »solltest du sehen, was mit dieser Straße passiert ist. Wenn Sie ungefähr anderthalb Kilometer nach Norden fahren, hört die Straße plötzlich mitten in einem Feld auf. Dort stehen dicht an dicht Bäume, und dann kommt die tatsächliche Grenze, wo

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