Ausgeliehen
sie oft mähen, damit alles übersichtlich bleibt, und dann, auf der anderen Seite, geht die Straße weiter. Dort heißt sie dann aber Rue de la irgendwas. Alle Straßen hier sind so. Sie hören ganz einfach auf. In meiner Heimat Nebraska gingen die Straßen immer weiter, ohne aufzuhören. Ich werde mich nie daran gewöhnen.«
»Ich schaffe es jetzt«, sagte ich. »Mir war gerade nur etwas mulmig. Vielen Dank für die Zeit, die Sie uns geschenkt haben.« Ich wusste, mir würde es bessergehen, wenn er wieder in seiner Kirche verschwand, wenn er uns allein mit der kalten Luft, der blassen Sonne und dem toten Gras lassen würde.
»Du passt jetzt auf die junge Dame auf«, sagte Pater Diggs und lächelte Ian an. »Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Während der Messe zeigen wir den Finger nicht!«
»Wir sind Protestanten!«, rief Ian ihm hinterher. »Aber herzlichen Dank!«
33
O Canada
Nach wenigen Minuten fühlte ich mich stabil genug, um zum Auto zu gehen, aber als wir das Auto erreicht hatten, konnte ich mich nur auf die Motorhaube setzen. Es war etwas wärmer geworden, also saß ich nur da, saugte die Wärme der Sonne in mich auf und starrte hinunter zur Grenze.
Wir schwiegen, das war für mich genau das Richtige. Halbherzig versuchte ich meine Füße Richtung Norden zu bewegen, doch sie gehorchten mir nicht, wie ich gewusst hatte. Sie blieben wie angewurzelt auf der Stoßstange stehen. Gleichzeitig tauchten lächerliche Visionen vor mir auf: Ian und ich in nördlicher Richtung wandernd, im Stil von The Sound of Music , ein Nonnenchor heißt uns, unseren Traum zu finden; ich renne über die Grenze, lasse Ian hinter mir, er stolpert zur Polizei am Kontrollpunkt; die berittenen kanadischen Polizisten bilden eine Art Bogen mit ihren Schwertern, und wir gehen darunter hindurch. Doch ich überlegte auch ernsthaft, was passieren würde, wenn wir ins Auto steigen und zu diesem Grenzübergang fahren würden. Ian müsste sich im Kofferraum verstecken. Ich müsste darauf vorbereitet sein, dass sie das Auto durchsuchen und ihn finden. Ich müsste eine Geschichte parat haben, dass wir vor meinem gewalttätigen Mann auf der Flucht seien, mein Sohn keinen Pass habe und wir bei meinem Onkel Ilja bleiben wollten, nur für einige Wochen, bis die einstweilige Verfügung in Kraft treten würde.
Ich wusste nicht, warum ich Kanada für etwas Besonderes hielt. Es war ja nicht so, dass es kein Auslieferungsabkommen gäbe. Es war ja nicht so, dass die Kanadier freier oder glücklicher wären. Vielleicht neigten sie weniger zu religiösem Extremismus. Waren ein bisschen toleranter gegenüber den Ians dieser Welt, hießen die Pastor Bobs weniger willkommen. Aber sonst nichts.
Vielleicht hatten sich seltsame romantische Vorstellungen vom Erwachsensein in mir festgesetzt, durch all die Geschichten, die ich in meiner Kindheit übers Auswandern und Grenzen Überschreiten mit nichts als den eigenen Klamotten am Leib gehört hatte: Mit zwanzig muss man alles hinter sich lassen und neu anfangen. Auch wenn das Schüsse und Landminen bedeutete. Auch wenn man eine weinende Mutter zurücklässt.
Doch es war, wie Leo Labaznikow gesagt hatte: »In Amerika gibt es keinen Ort mehr, wohin man fliehen könnte.« Ich war zu spät geboren worden.
Ein einziges Auto fuhr auf der schmalen Straße an uns vorbei: taubenblau, rostig, ein Japaner. Schwarze Haare, schwarze Sonnenbrille. Er fuhr höchstens dreißig Stundenkilometer und schaute nicht einmal zu uns herüber. Er verschwand über den Hügel.
Ian sagte: »Eine Sekunde lang habe ich gedacht, dieser Mann hätte unser Auto gestohlen. Dann habe ich kapiert, dass wir ja drauf sitzen.«
Eine Minute später kam der Mann über den Hügel zurück, fuhr erneut an uns vorbei und verschwand auf der Hauptstraße, Richtung Süden. Hätte er Ian schnappen oder mich erschießen wollen, hätte er die beste Gelegenheit dazu gehabt. Was immer er auch plante, ich wünschte, er würde es bald hinter sich bringen. »Ich glaube, jetzt hat er das Ende der Straße gefunden«, meinte Ian.
Ich lehnte mich auf der Haube zurück, die noch warm war, jedenfalls wärmer als die Luft, und beobachtete den Verkehr auf der Hauptstraße. Nach Bushs Wiederwahl hatten viele Leute davon gesprochen, nach Kanada auszuwandern, obwohl ich niemanden kannte, der es wirklich getan hatte. So etwas schrien Tim und seine Schauspielerfreunde lauthals, wenn sie betrunken waren. Ich stellte mir vor, dass all diese Menschen in den Lastwagen
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