Ausgeliehen
etwa dreißig, vierzig Gräbern. Ian betrachtete jede Inschrift, obwohl kein Grabstein neu zu sein schien und die scharfen Kanten der eingemeißelten Buchstaben von einst erodiert waren und weichen, flachen Fingerspuren im Sand glichen.
»Also, Ian, wie hieß deine arme verstorbene Großmutter?«
»Eleanor Drake«, sagte er, doch dann öffnete er den Mund, als wolle er sich korrigieren. »Aber sie hatte einen anderen Mädchennamen. Sie ist definitiv hier begraben, ich war hier, als ich klein war.«
Ich wollte ihn stoppen, ihm sagen, dass er diese Lüge nicht nötig hatte, aber er schien einen Plan zu haben, dem er folgte. Er handelte nicht verzweifelt oder wie jemand, der in der Falle sitzt. Ich sagte mir, ich solle ihn machen lassen, wusste aber, dass ich nur aus egoistischer Neugier den Mund hielt. Es war, wie wenn man ein neues, schreckliches Kinderbuch zu Ende liest, nur weil man erfahren will, wie der Autor die gefangene Babysitterin und ihren Hund vor den Piraten rettet. Ian stolperte zwischen den Gräbern herum. Die lesbaren Grabinschriften las er laut vor.
»Thomas Fenster! 1830 bis 1888! Das ist ganz bestimmt nicht meine Großmutter!« Er blieb vor einem anderen Grabstein stehen und zählte etwas an den Fingern ab. »Dieses Mädchen ist nur sechs Jahre alt geworden! Sie starb vermutlich bei einem Brand!« Hatte er wirklich die Finger gebraucht, um die Differenz von sechs Jahren auszurechnen? Ich hatte immer gedacht, er sei gut in der Schule, wenn ich sah, was er alles gelesen hatte, aber Mathematik schien was anderes zu sein. Mathematik, Logik, lösbare Probleme: Das passte nicht so recht in Ians Welt.
Ich ging hinter ihm her und beobachtete ihn, wartete auf das erste Zeichen eines Zusammenbruchs, so dass ich ihm sagen konnte, er möge damit aufhören, ich würde ihn sowieso überall hinfahren.
Nach ungefähr fünf Minuten blieb er vor einem alten, dünnen rechteckigen Stein stehen und betrachtete ihn. Ich stand hinter ihm und schaute über seine Schulter. Die Schrift war schon fast unleserlich, besonders oben, wo der Name stand.
»Ich glaube, das ist es«, sagte er.
»Wie willst du das wissen? Man kann den Namen nicht lesen.«
»Oh, ich denke, dass ich einmal ein Foto von diesem Grabstein gesehen habe. Außerdem war ich schon einmal hier, obwohl ich damals noch ziemlich klein war. Und das sind die richtigen Daten.« Er deutete auf den lesbaren Teil. Da stand »1792–1809«.
»Ian, du weißt, dass das schon sehr lange her ist. Diese Person starb vor fast zweihundert Jahren.«
»Nun ja«, sagte er, »ich habe auch vergessen zu sagen, dass es sich um meine Urururururgroßmutter handelt.«
»Mhm«, sagte ich und wollte mehr als alles andere schlafen gehen. Er hockte sich vor dem Grabstein auf den Boden. Ich hätte mich neben ihn gesetzt – ich hätte mich auf den Boden gelegt –, wäre nicht alles voller Schlamm und Schnee gewesen.
»Was bedeutet der Rest der Inschrift?«, fragte er.
»Ich kann es nicht richtig lesen.« Unter dem Datum waren vier Wörter, das erste begann mit »S«, das vierte mit »V«. In der nächsten Zeile waren drei Wörter, das zweite Wort sah aus wie »Stadt«.
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Miss Hull, wenn du dort drüben stehst, kannst du einen Schatten darauf werfen, dann ist es einfacher zu lesen.« Er hatte recht. Die Sonne schien direkt auf den Stein, so dass die Vertiefungen unsichtbar wurden. Mit meinem Körper verdeckte ich die Sonne, und er kauerte sich nieder, beschattete die Augen mit der Hand. »Ich glaube, das erste Wort ist ›Starb‹. Das ist doch logisch, nicht wahr? Schließlich ist sie tot. Das vierte Wort ist so was wie ›Vereidung‹. Aber länger. Ich bin sicher, dass der letzte Buchstabe ein ›g‹ ist.«
Plötzlich wusste ich es, bevor ich selbst hingeschaut hatte. »Verteidigung«, sagte ich. »Ich glaube, es ist das Grab eines Soldaten.«
»Cool!«
»Deine Großmutter war ein siebzehnjähriger Soldat?«
Er antwortete nicht. »Bleib stehen! Ich kann den Rest noch immer nicht lesen, aber ich habe eine Idee!« Er rannte zu einem großen, nackten Baum zwischen der letzten Gräberreihe und der Kirche und begann hinaufzuklettern. »Ich glaube, von hier aus kann ich es besser sehen!«
Und das waren seine letzten Worte, bevor er in den Tod stürzte , diese Stimme aus dem Off hallte in meinem Kopf wider, aber er war sekundenschnell sicher auf den niedrigen Zweigen des Baums gelandet.
Er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Warum
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