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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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aus, ihm eine Antwort zu geben, die ihn glücklich machte, als korrekt zu sein. Doch er schüttelte nur den Kopf, starrte weiter in sein Buch und hob einen Finger, als wolle er etwas sagen, was er aber nicht tat.
    Gegen vier Uhr nachmittags nahm er die Brille ab, putzte die Gläser mit seinem Hemd und sagte: »Ich glaube, dass Mankson und Havre dieselbe Stadt waren. Das scheint am sinnvollsten zu sein. Denn als sie gewonnen hatten, müssen sie definitiv den Namen geändert haben – um ihre neue Freiheit zu feiern. Wie du gesagt hast. Aber deine Stadt lag noch nicht mal an der Grenze, deshalb wäre es sinnlos, dort zu kämpfen. Und wenn sie im Kampf gefallen ist, hat man sie bestimmt nicht allzu weit getragen. Sie haben sie bestimmt ganz in der Nähe begraben. Vermutlich war sie blutüberströmt oder auch amputiert.«
    Ich klappte das Buch zu. Ich war so müde, dass ich tatsächlich in dem Index nach »Drake, Eleanor« gesucht hatte. »Vielleicht«, sagte ich.
    »Wie dem auch sei, sie war eine Kriegsheldin, und das ist, was zählt. Sie half bei der Rettung ihrer Stadt.«
    Ich freute mich, dass er glücklich war, und er schien wirklich stolz auf seine angebliche Urahnin zu sein. Er lächelte genau wie Tim, wenn er ein lächerliches Szenario bis zum absurden Ende verfolgte und vergaß, dass es nicht real war.
    Wir stellten die Bücher in ihre verstaubten Regale zurück und liehen uns spaßeshalber einige Jugendbücher aus.
    (Wie man ein Buch ausleiht, ohne einen Bibliotheksausweis zu haben:
Du sagst der jugendlichen Praktikantin hinter der Theke: »Leider haben wir unsere Karten vergessen. Mein Nachname ist Anderson.«
Die Praktikantin konzentriert sich auf die richtigen Tasten: »Joan oder Jennifer Anderson?«
Du, über die Haare streichend: »Jennifer.«
»Können Sie Ihre Adresse bestätigen?«
»Oh, wir sind gerade umgezogen! Ich gebe Ihnen die neue Adresse!«
Jennifer Anderson kann das später alles selbst auseinanderklamüsern.)
    Im Auto lehnte Ian seinen Kopf zurück, lächelte und schaute aus dem Fenster. Ich fuhr ziellos in Richtung Südosten und dachte über die Inschrift nach. Nachdem Ian seine Geschichte konstruiert hatte, musste ich auch eine basteln. Es gab mehr als einen Weg, sie zu lesen. Starb bei der Verteidigung. Verteidige deine Überzeugungen bis zum Tode. Verteidige dein Land gegen die Pastor Bobs dieser Welt. Aber was veranlasste mich dazu, es als eine persönliche Botschaft zu lesen, als hätte mir ein Teenager, der im Jahre 1809 gestorben war, eine kryptische Richtungsanweisung gegeben?
    Das Problem war vielleicht, dass ich bis jetzt noch keine Zeichen erkannte. Oder keine verständlichen Zeichen. Mein Familienwappen mit den widerstreitenden Symbolen war zu doppelbödig: Kopf auf dem Spieß! Oder bleib ganz einfach zu Hause und lies ein Buch! Der Finger in der Kirche zeigte nach Westen, Osten, Norden und Süden; nach Hause, fort, Kanada, Hölle. Und hier, auch wenn das Genitivattribut unklar blieb, gab es endlich eine feste Richtlinie: Stirb bei der Verteidigung. Geh nicht nach Hause. Gib nicht auf. Lass dieses Kind nicht auf der Treppe der Stadtbibliothek von Lynton zurück. Kämpfen, nicht fliehen.
    Dreißig Kilometer weiter südlich checkten wir in einem zerfallenden Hotel ein, dem billigsten, das wir finden konnten. Wir hatten fast kein Geld mehr, und ich war mir nicht sicher, ob ich noch genug Geld für Benzin hatte, um nach Hause zu fahren, oder auch nur für Bustickets. Ich bezahlte, während Ian auf dem kleinen Tisch mit Dingen zum Verkauf herumwühlte: Süßigkeiten, Landkarten, französisch-englische Wörterbücher, Sprudel, Kaugummis. Er schob die Finger in den Rückgabeschlitz des öffentlichen Telefons. Ich drehte mich um und beobachtete ihn, während der Mann an der Rezeption am Computer herumfuhrwerkte, und mir fiel auf, wie normal das alles wirkte, wie eingespielt: Ian mit der Nase am Snickers-Glas, ich mit dem Ellenbogen auf dem hölzernen Tresen, sein linker Schnürsenkel an einer Seite so ausgefranst, dass er ihn nicht mehr zubinden konnte, auch wenn er es versucht hätte. Ja, das war es, was wir taten, jeden Abend. Ich checkte ein und sah dabei gelassen aus. Er starrte die Süßigkeiten an. Sein Schuh war im Begriff, auseinanderzufallen.
    Mit den ausgeliehenen Büchern ließen wir uns aufs Bett fallen, und ich spürte eine seltsame Mischung aus Kraftlosigkeit und Energie. Ich dachte an Tim und seine Freunde, die alle am Wochenende zur Kundgebung fuhren, und daran, was sie

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