Ausgeliehen
Besonderes zu sagen, etwas, was für die nächsten zehn Jahre Bestand haben würde.
Mir fiel kein einziges Wort ein.
Wie man sich à la Ian Drake verabschiedet:
Tanz einen Charleston oder einen sehr ähnlichen Tanz.
Sag »sayonara!«.
Verbeuge dich wie eine Geisha.
Frage deinen gruseligen russischen Aufpasser, ob er einen Fettstift hat.
Dreh dich im Kreis, mit ausgestreckten Armen, bis du den Bus erreichst.
Geh die Busstufen rückwärts hinauf, schau dabei den Himmel an.
Ian und Mr Sonnenbrille verschwanden gemeinsam im Bus, und ich hielt Ausschau nach Ians Gesicht am Fenster, nach einem Aufblitzen seiner Brille, nach irgendeinem Zeichen, das mir sagte, dass alles gut würde, aber sein Gesicht tauchte nicht auf. Er musste einen Platz auf der anderen Seite gefunden haben.
Der Bus fuhr los, ich drehte mich um und ging schnell zu meinem Auto. Als der Bus nicht mehr zu sehen war, war die Hälfte meines Hirns mit dem Gedanken beschäftigt, dass vermutlich irgendwo Videokameras waren, die alles aufgezeichnet hatten. Mit ein bisschen Glück würde niemand auf die Idee kommen, diese Aufnahmen in Bezug auf Ian zu durchforsten.
Eine Minute lang saß ich auf dem kalten Fahrersitz, bevor ich den Zündschlüssel ins Schloss steckte. Ich hatte erwartet, ich würde weinen, aber ich grinste immer noch. Und ich fühlte mich so frei, dass ich das Gefühl hatte, durch das Autodach stoßen zu können. So etwas hatte ich noch nie empfunden. Noch nicht einmal, als ich aufs College kam – dort hatte ich Angst gehabt, überhaupt irgendetwas zu tun, was Freiheit bedeuten würde, außer Bier trinken. Auch nicht, als das College zu Ende war und ich mich damit beschäftigte, Arbeit zu finden, mich aus der finanziellen Abhängigkeit von meinen Eltern zu lösen und mir eine Wohnung zu suchen, die ich bezahlen konnte. Ich fragte mich, ob mein Vater, trotz seiner Schuldgefühle, so etwas Ähnliches empfunden hatte, als er in den Fluss gesprungen oder aus dem Flugzeug gestiegen war: ankerlos, obdachlos, unerklärlich glücklich.
36
Worin Lucy dreimal ihre Hacken zusammenschlägt
Ich fuhr zurück zur Church Street, setzte mich in eine Imbissbar und bestellte mir einen Becher Kaffee, ohne zu wissen, wie ich ihn bezahlen sollte, und überlegte mir, wie ich den Rest des Tages verbringen wollte. Ich könnte wieder in die kleinen Buchläden gehen und herumstöbern. Oder in eine Kunstklasse an der Universität hineinschnuppern. Vielleicht fand ich ja ein paar nette, abenteuerlustige Studenten, die mich auf ihrer Couch schlafen ließen.
Ich wusste, sobald ich einen Plan hätte, würde dieses Gefühl unendlicher Möglichkeiten vorbei sein. Aber für mich, für meinen Bibliothekarinnenverstand, waren fünfzehn Minuten grenzenloser Freiheit vermutlich genug. Ich hatte die vage Vorstellung, auf dem Land unterzutauchen oder etwas Endgültiges zu unternehmen. Die Idee kam über mich wie ein Heiligenschein, während ich auf die Straße starrte: Ich würde einen Kinderbuchladen eröffnen, einen wundervollen Ort mit Sofas und einem Hund und Glückskeksen, direkt auf der Church Street. Aber ich hatte null Geld – null hoch eine Million, wie Ian wohl sagen würde –, also müsste ich den Laden in einem Pappkarton im Park einrichten. Ich könnte die Bücher aus der Bibliothek in Lynton und die Vermont-Bücher verkaufen. Das wär’s dann. Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe.
Als würde es etwas helfen, räumte ich wie eine Verrückte meine Tasche aus und legte den Inhalt vor mir auf den Tisch: Lippenbalsam, ein Portemonnaie, ein Schweizer Armeemesser, Kaugummis, einen Kugelschreiber, meinen Reisepass, einen nutzlosen Terminkalender. Ich hatte gerade noch genug Verstand, die Tampons in der Tasche zu lassen. Ich öffnete mein Portemonnaie und zählte die Geldstücke. Alles kanadische Münzen. Dann klappte ich meine Brieftasche auf: Führerschein. Hotel- und Benzinquittungen, die ich wirklich vernichten sollte. Kreditkarten, die ich notfalls benutzen konnte, aber das würde mich im Fall eines Prozesses an diesem bestimmten Tag mit Vermont in Verbindung bringen. Die Visakarte einer Fluggesellschaft, meine Bankkarte und die glänzende Platinkarte meiner Eltern, die mir mein Vater vor einem Jahr aufgedrängt und die ich nie herausgeholt hatte. Und die, wenn ich es recht bedachte, auch nicht mich an diesem bestimmten Tag mit Vermont in Verbindung bringen würde. Wie nett, wenn mir das früher eingefallen wäre. Ich stellte mir vor, ich hätte früher daran
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