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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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ging nicht. Die Zeit verflog, und wir mussten uns für etwas entscheiden. »Sie werden dir wahrscheinlich nicht glauben, egal was du sagst. Aber wenn du bei der Geschichte mit dem Metropolitan-Museum bleibst und sie immer wieder erzählst, ohne etwas daran zu verändern, und wenn du nie etwas über die Bibliothek, über Chicago oder Vermont sagst, dann werden sie wenigstens nicht erfahren, was in Wahrheit passiert ist. Du musst die Sache mit Humor nehmen. Wenn sie dir einen Fehler nachweisen, wenn sie sagen sollten, dass das Metropolitan-Museum letzte Woche abgebrannt ist, kannst du lachen, aber du musst die gleiche Geschichte immer wieder erzählen. Immer und immer wieder. Auch wenn sie dir drohen. Dann werden sie allmählich aufgeben. Aber du darfst ihnen kein einziges Fünkchen Wahrheit erzählen.«
    »Deinetwegen. Weil man dich dann entlassen würde.«
    »Ja.« Ich fragte mich, ob ich ihm sagen sollte, dass ich wahrscheinlich nie in die Bibliothek zurückkehren würde. Wenn er später herausfände, dass ich die Stadt für immer verlassen habe, würde er vielleicht denken, er könne jetzt die Wahrheit sagen, oder er könnte sich betrogen fühlen und es aus Wut tun. »Selbst wenn ich nicht zurückkomme«, sagte ich, »musst du an deiner Geschichte festhalten. Ich würde nämlich nicht nur entlassen werden, ich würde ins Gefängnis gehen. Für eine sehr, sehr lange Zeit.« Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob das stimmte. Wie schlimm würde sich die wahre Geschichte anhören? Ich hatte versucht, ihn zum Haus seiner Großmutter zu fahren, diese hatte sich als toter Soldat entpuppt, und ich hatte ihn nach Hause geschickt. Sie würden mich garantiert ins Gefängnis stecken, aber für wie lange? Das hier war nicht Russland. Sie würden mich nicht mitten in der Nacht verschleppen. Sie würden meinen Wodka nicht vergiften.
    Auf einmal fing ich an zu lachen, ein verrücktes Lachen wie Ians gestern, und zuerst sah er besorgt aus, dann lachte er auch. Wir lachten trotz des Windes, der durch den Busbahnhof fuhr, und obwohl Ian seinen Rucksack umklammerte, um es ein bisschen wärmer zu haben, und es kein Lachen der Erleichterung oder einer geheimen Traurigkeit war. Es war ein absurdes Lachen. Deine Großmutter ist ein Junge von siebzehn Jahren? Dieser gruselige Russe hat gerade dein Busticket bezahlt? Frettchen-Shampoo?
    Schließlich beruhigten wir uns und saßen ein paar Minuten lang still da, dann fragte ich ihn nach seiner Geschichte ab. (»Was hast du im Museum gesehen?« – »Also, der interessanteste Teil war die Antikenabteilung.« – »Ian, wir wissen, dass du lügst. Es gibt Bewegungsmelder in jeder Ecke.« – »Sie müssen defekt gewesen sein, als ich da war.«) Sein Plan war, dass er in Hannibal aussteigen und sich möglichst unauffällig in die Stadt schleichen würde, wo er schließlich in die Bibliothek gehen würde. Hier kam Ians Klugheit wieder ins Spiel: Denn warum sollte er sich an dem Ort »stellen«, von dem aus er geflüchtet war? Und wo würde Ian Drake eher landen als in der Stadtbibliothek von Hannibal? Ich stellte mir vor, wie er durch den Rückgabeschlitz rutschte, Rocky würde ihn als Rückgabe scannen und der Computer würde signalisieren: Längst überfällig!
    Ich sagte, er solle mich nur im Notfall anrufen und Mr Andrejew das Handy zurückgeben, bevor sie Hannibal erreichten. Noch besser, er würde es irgendwo wegwerfen, nachdem er meine Nummer gelöscht hatte.
    Viel zu schnell war der Bus da, dampfend, quietschend und schmutzig. Ich gab Ian das ganze Bargeld, das ich noch hatte, damit er sich etwas zu essen kaufen konnte, wenn der Bus eine Pause einlegte, ohne die Hilfe des gruseligen russischen Aufpassers. Alexej Andrejew trat aus dem Gebäude heraus und blieb einige Anstandsmeter von uns entfernt stehen, die Hände zusammengefaltet, den Blick nach vorn gerichtet, wie ein Geheimdienstagent. »Ich rufe Sie an«, sagte er, »sobald ich ihn abgeliefert habe.«
    Ian zählte das Geld, steckte es in die Tasche, streckte mir die Hand entgegen, damit ich sie schüttelte, was ich dann auch tat. Ich überlegte, ob ich ihn umarmen sollte. Wahrscheinlich nicht – er war zehn Jahre alt. Ich knuffte ihn in die Schulter, was so viel wie »viel Glück!« heißen sollte. Wir lächelten uns an, eher wie zwei Menschen, die sich eine Woche später wiedersehen würden, um darüber zu lachen, nicht wie Menschen, die einander nie mehr wiedersehen würden. Es war ein wunderbarer Moment, um etwas ganz

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