Ausgeliehen
machen?«
Er lachte. »Gar nichts. Willst du vielleicht bei der Polizei anrufen? Dieses Gespräch würde ich gern mithören. ›Ich habe hier ein Origami-Gebilde …‹ Niemand hat gegen das Gesetz verstoßen, außer dir vielleicht, weil du eine private Mail gelesen hast!«
»Das meine ich nicht. Ich liebe es, wenn du so tust, als würde ich überreagieren, auch wenn es nicht so ist. Aber ich könnte seine Schule informieren, oder? Seine Lehrer werden wissen wollen, ob das noch weitergeht.«
»Mach das nicht, Lucy. Misch dich da nicht ein. Du reißt doch sonst den Mund so weit auf, wenn es um die Meinungsfreiheit und den Ersten Zusatzartikel der Verfassung geht, nicht wahr? Diese Mail war nicht für dich bestimmt.« Er faltete das Papier viermal und hielt es über den Papierkorb. »Kann ich das entsorgen? Damit du nichts Voreiliges unternimmst?«
»Klar doch.«
Aber natürlich holte ich es später wieder heraus und hob es auf.
Es war einfach zu recherchieren, denn es gab im Internet eine beunruhigende Menge an Informationen. Bob Lawson war der glatzköpfige, rotgesichtige Gründer der »Glad Heart Ministries«, einer Organisation »für die Rehabilitation sexuell verwirrter Brüder und Schwestern in Christus«. Bei einem Wochenendseminar, das fünfhundert Dollar kostete, konnten »abtrünnige Erwachsene« in den natürlichen und gesunden Zustand der Heterosexualität zurückgeführt werden, allerdings war noch eine wöchentliche Beratung erforderlich, um sie davor zu bewahren, erneut der Sünde zu verfallen. Nur fünf Jahre nach der Gründung gab es bereits Filialen in sechs Staaten, aber Pastor Bob leitete noch persönlich die Filiale in St. Louis. Ian war offenbar in der Jugendgruppe eingeschrieben, in der Kinder zwischen zehn und dreizehn Jahren, deren Eltern den Verdacht hatten, sie seien »auf dem falschen Weg«, lernen konnten, mithilfe von Gebeten und Arbeitsheften ein »gesundes, göttliches Leben« zu führen und zu verstehen, dass es sich bei »Sexualität um eine Entscheidung handelt, nicht um eine Identität«. Die älteren Teenager wurden in ein sogenanntes »Neustart-Camp« geschickt, doch das erklärte Ziel der Jugendgruppen war, »zu unseren Kindern zu sprechen, bevor die säkularen Medien sie mit ihrer politischen Agenda erreicht haben«.
»Pastor Bob Lawson«, stand auf der Biographie-Seite, »lebte siebzehn Jahre als Homosexueller, bevor er zu Christus kam und lernte, dass Seine beständige Liebe das Vakuum füllt, das er so lange gespürt hatte. Bob ist seit 1994 mit DeLinda Reese-Lawson verheiratet, einer früheren Lesbierin, und das Paar hat drei Kinder. Bob und DeLindas Ehe belegt die Tatsache, dass Christi Liebe Ehe und Familie zusammenhält und dass die irdische Liebe nur eine Manifestation dieser höheren Liebe ist. Wenn unsere Beziehung zu Gott rein ist, wird unsere Beziehung mit Seinen anderen irdischen Dienern ebenfalls rein sein.«
Überall im Internet fand ich Zeugnisse, Verzichterklärungen und Artikel der christlichen wie der säkularen Presse. Vor acht Monaten war Pastor Bob beim Verlassen eines Schwulen-Nachtclubs fotografiert worden, woraufhin er behauptete, er habe sich »um die Kranken gekümmert«.
Ich spürte, wie mein Blutdruck in die Höhe schoss, nur beim Anblick dieses fetten Gesichts. Wäre ich nicht an meinem Arbeitsplatz gewesen, hätte ich den Computer vermutlich angebrüllt. Ich fragte mich, ob Ian überhaupt verstand, warum er zu diesen Treffen ging – erklären sie alles oder versuchen sie, die Kinder im Dunkeln tappen zu lassen, in der Hoffnung, dass ihnen diese Möglichkeit nie in den Sinn käme?
Was würde mit Ian passieren, wenn er jedes Wort von Pastor Bob für bare Münze hielt? Er war ein Einzelkind, so wie ich – er würde sich an jeden Erwachsenen im Umkreis von dreißig Metern klammern. Kein chinesisches Baby, kein »Das Lesen hat mir das Leben gerettet«. Er könnte selbst zu einem Pastor Bob werden.
Ich hörte auf Rockys Rat und widerstand der Versuchung, Sophie Bennett oder sonst jemandem an der Hannibal Day oder überhaupt jemandem davon zu erzählen. Obwohl es mich drängte, alle Leute zu informieren, die ich auf der Straße traf, an alle Ratgeberrubriken zu schreiben, es in meine hypothetische Akte auffallender Blutergüsse einzutragen. Als gute Russin wollte ich in Pastor Bobs Haus einbrechen und ihn vergiften. Als gute Amerikanerin wollte ich irgendjemanden verklagen. Aber als gute Bibliothekarin blieb ich hinter meiner Theke sitzen
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