Ausgeliehen
trotzdem hatte ich das Gefühl, dass dies meine Leute waren – diese verrückten, mutigen und unverfrorenen Geschöpfe –, doch wie praktisch ich auch als Requisite gewesen sein mochte, sie hatten es nicht geschafft, mich zu akzeptieren, zu adoptieren, als eine der ihren anzuerkennen.
Sie hatten mich fälschlich für eine Bibliothekarin gehalten.
6
Es ist nur ein Origami-Mond
Um das Geschenk zu erklären, das mir Ian in jenem Dezember machte, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass er nur unterbewusst begriff, was er tat. Die andere, dass er bewusst um Hilfe schrie. Aber ich glaube nicht, dass es zufällig geschah. War es nicht Freud, der gesagt hat, so etwas wie einen Zufall gebe es nicht?
Es war der erste Dezember (»Der erste Adventstag!«, verkündete er), als er die Treppe heruntertappte und eine Spur aus Eis und Streusalz bis zu meiner Theke zog. Er steckte die Hand in die Manteltasche und holte ein kompliziertes Origami-Gebilde heraus, aus weißem Papier und an den Rändern mit roten und grünen Verzierungen geschmückt. Ich hielt es in der Hand und versuchte herauszufinden, was es war, hütete mich aber, laut zu raten. Das letzte Origami-Kunstwerk, das er mir gebracht hatte, sollte den Kopf von Elvis darstellen.
»Es ist ein Jesus!«, sagte er. »In der Krippe!« Seine Brille war beschlagen, deshalb konnte ich seine Augen nicht sehen, nur ein riesiges Grinsen.
Ich hielt das Papier so, dass es wie ein kleines Bündel aussah, das auf einem umgedrehten Trapez lag. »Oh, ich verstehe«, sagte ich. »Das ist wunderschön! Vielen Dank!«
»Fröhliche Weihnachten!«, rief er und lief die Treppe wieder hinauf. Bestimmt wartete seine Mutter auf ihn.
Das Jesuskind lag auf meiner Theke bis zum nächsten Samstag, als ich aufräumte. Ich faltete das Papier auf, um es fürs Recycling durch den Schredder zu jagen, und sah, dass auf der Innenseite etwas stand. Es handelte sich um eine E-Mail von jmdrake68 an rita_mclaughlin. Natürlich las ich die Mail. Nach dem Betreff stand:
Liebe Rita, ich hoffe, dies ist die Art von Zeugnis, die Du haben wolltest. Du kannst es frei verwenden!!!
Freunde,
wir sind die Eltern eines hübschen zehnjährigen Sohnes, der die Freude unseres Lebens ist. Als er acht Jahre alt wurde, machten wir uns große Sorgen, weil seine Art und sein Verhalten nicht dem der meisten Jungs seines Alters entsprachen. Wir wollten das lange nicht wahrhaben. Wieso wurde unserem Gottesgeschenk eine solche Last aufgebürdet? Wieder und wieder fragten wir uns, was wir wohl falsch gemacht hatten. Nach vielen Gebeten kamen wir jedoch zu dem Schluss, dass Gottes größtes Geschenk auch seine größte Herausforderung an uns sein könnte.
Im letzten Monat schrieben wir Ian in der Jugendgruppe von Bob Lawsons Glad Heart Ministries ein, und Bob erweist sich als Inspiration. Wir fahren über eine Stunde zu den Treffen und wir genießen die Zeit mit den anderen Eltern, während unsere Kinder mit dem Pastor arbeiten. Die Eltern, die schon lange dabei sind, geben uns Hoffnung mit ihren Geschichten. Ein Vater sagte: »Es ist, als wäre unser Sohn neugeboren.« Und ist es nicht das, was sich Jesus Christus von uns allen wünscht, dass wir in Ihm neugeboren werden?
Das Leben ist eine Reise, und wir können nicht so tun, als gäbe es eine unmittelbare Antwort. Wir müssen so viel an uns arbeiten, und wir müssen weitermachen mit unserer Beziehung zu Gott und zueinander, bevor unsere Heilung beginnen kann.
Wir bitten euch, in den kommenden Monaten für uns zu beten und bieten euch dafür unsere Gebete an.
In Seiner Hand,
Janet und Larry D.
Ich ging nach oben und zeigte Rocky den Brief. »Ist es das, was ich denke, das es ist? Und was heißt ›In Seiner Hand‹?«
Rocky las ihn, lachte und schüttelte den Kopf. »Was sind die denn, Anhänger der Pfingstbewegung?«
»Fundamentalisten, denke ich, oder so etwas Ähnliches. Ich habe den Eindruck, es ist eine dieser großen evangelikalen Gemeinden mit Rockband.«
Er las den Brief noch einmal. »Das ist ja völliger Blödsinn«, sagte er, und ich war beeindruckt, dass er eine so deutliche Reaktion zeigte. Am Tag davor hatte ich ihm von einer kleinen Buchhandlung in Hannibal erzählt, die pleiteging, und er hatte gesagt: »Was erwartest du denn? Ich habe doch gesehen, dass auch du bei Amazon kaufst. So ist das heutzutage eben.« Er war immer bereit, seinen Ärger auszudrücken, aber Überraschung zu zeigen lag unter seiner Würde.
»Was soll ich
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