Ausgeliehen
jemand auf der Straße anhalten und fragen würde, warum der Rücken meiner Bluse blutgetränkt sei. Ich ging früh zur Arbeit, um die Flyer für die sommerlichen Vorlesestunden fertigzustellen und um nachzusehen, welche Schäden Sarah-Ann gestern beim Schließen der Bibliothek angerichtet hatte. Als ich um sieben Uhr dort ankam, goss es in Strömen. Überall waren Zweige von den Bäumen gebrochen. Bevor ich eintrat, schüttelte ich mich und trat meine Schuhe ab, dann schloss ich die Tür hinter mir. Ich hatte zwei Stunden für mich allein.
Vielleicht war die Stille schuld daran, dass ich an diesem Morgen besonders auf Details achtete – was für mich immer ein Problem ist, seit ich weiß, dass in Geschichten und Filmen die Konzentration auf Details immer auf ein bevorstehendes Desaster hindeutet. Irgendjemand schließt in einem Film eine Tür auf, schaut seine Post durch, macht das Licht an, und du weißt, dass er nur noch dreißig Sekunden zu leben hat. So war ich an jenem Morgen von einer irrationalen Angst erfüllt, wie immer, wenn ich die Bibliothek allein und früh betrat und nichts anderes zu hören war als meine Finger auf dem Papier oder mein Portemonnaie, das in die Schreibtischschublade rutschte.
Einen Moment lang saß ich in der Dunkelheit, dann stand ich auf, um das Licht im Tiefparterre einzuschalten, alle sechs Lichtschalter, einen nach dem anderen, die einzelnen Bücherwände und Vitrinen traten dramatisch zum Vorschein. Ich war noch immer nass und kalt vom Regen. Vermutlich war ich ein bisschen laut, wie immer, wenn es um mich herum so still ist – ich summte oder schnalzte mit den Lippen. Ich ging hinter die Theke und sank auf den weichen Drehstuhl, als ich ein Geräusch vom Ende eines Gangs mit Belletristik hörte, es war, als würde jemand Papier zerknüllen. Mein Magen verkrampfte sich, und ich zog die Füße auf den Stuhl. Ich hatte nur ein einziges Mal eine Maus in meiner Wohnung gehabt, aber der Gedanke, dass so ein kleines Ding einfach eingedrungen war, hatte mich dermaßen irritiert, dass ich eine ganze Woche lang bis spätabends gearbeitet hatte, bis ich sicher war, dass die Maus vergiftet und verschwunden war. Jetzt schlug ich hart mit der Faust auf den Schreibtisch, um das Tier abzuschrecken. Ich stellte die Füße wieder auf den Boden, stieß die Schubladen auf und zu und lauschte, ob es noch weiteres Geraschel gab.
»Miss Hull?«, fragte Ian. Ich war so sehr an die Art gewöhnt, wie er meinen Namen aussprach, dass ich ihn vor der Theke suchte, und nicht dort, von wo die Geräusche gekommen waren. Dann ermahnte ich mich, nicht zu fluchen, als ich in den Gang taumelte.
Ian hockte auf dem Boden neben der großen Pflanze und hatte Bücher, T-Shirts und Decken um sich herum aufgebaut.
Er kicherte. Er sah verängstigt aus. Er nahm die Brille ab und wischte sich über die Augen.
»Bitte, sag niemandem etwas«, bat er. »Ich meine, meinen Eltern oder der Polizei. Es tut mir sososososo leid.«
Ich hockte mich neben ihn auf den Teppich, versuchte gelassen zu lächeln und keine Hektik zu verbreiten. »Okay«, sagte ich und wartete. Er biss sich ins Knie seiner Jeans und schaukelte vor und zurück, aber er weinte nicht, nicht so richtig.
»Schau!«, sagte er plötzlich und griff hinter sich. »Ich habe mir einen richtigen Wandersack gemacht.« Er hielt mir einen langen, dicken Zweig entgegen, an dessen Ende etwas festgebunden war, das wie ein Ballon aus einem Flanellhemd aussah. Er hielt mir den Ballon hin. Er war schwer.
»Was ist da drin?« Ich berührte den Klumpen, dann legte ich den Stock vorsichtig auf den Boden. Ian machte den Knoten auf.
Auf einmal atmete er normal und lächelte, er saß mit verschränkten Beinen da und lehnte sich an ein Regal. »Nummer eins: Zahnseide.« Er nahm die Zahnseide aus dem Haufen. »Shampoo. Kraftriegel. Findest du es nicht gut, dass ich Kraftriegel mitgebracht habe? Sie haben so ziemlich alle Vitamine.«
Er hielt einen kleinen Plastikbecher hoch. »Für Wasser. Und Zähneputzen. Und hier sind meine Medikamente.« Er hielt einen Asthma-Inhalator hoch und eine Flasche mit Pillen. »Zahnbürste, Zahnpasta, Schwimmausweis, Socken.«
Ruhige, normale Stimme: »Willst du schwimmen gehen?«
»Nein.« Er lachte. »Das ist mein Ausweis, falls ich ihn brauchen sollte.«
»Tja, sehr umsichtig, Ian.«
Er lächelte mich an. Die Morgensonne, die sich in seinen Brillengläsern spiegelte, ließ seine Mondaugen gelb aussehen.
»Weißt du, warum ich nichts
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