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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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rief der Inspizient an meiner Stelle. »Er ist tot , um Himmels willen . «
    »Das bin ich auch«, lamentierte Lennon. »Wir sind beide verdammte Opfer , ja, das sind wir.«
    Der Präsident forderte einen Mann in der ersten Reihe auf, aufzustehen. Dieser Mann war vor zwei Jahren entlassen worden, und jetzt, da es der Wirtschaft besser ging, hatte er einen neuen Job als Vorarbeiter an einem Fließband bekommen. Jetzt konnte er seine sechs Kinder wieder ernähren. Der Mann schaute wie ein nervöses Eichhörnchen nach links und nach rechts. Er schien nicht zu wissen, wann er sich wieder hinsetzen sollte. Ich hatte diese Präsidentenreden schon immer gehasst, selbst wenn ich den Präsidenten mochte. Ich hasste ihre beschwingte Durchsichtigkeit. Unser Nationalschauspieler, der angestellt war, um uns zu versichern, dass alles gut werden würde.
    »Du hast Glück«, hatte mein Vater oft gesagt, »dass du dich über deinen Präsidenten lustig machen kannst. Hast du überhaupt eine Ahnung, was passiert wäre, wenn du über Stalin Witze gemacht hättest? Wenn dir jemand einen Witz über Stalin erzählen wollte, musste er dich vorher in eine dunkle Kammer führen und sorgfältig prüfen, ob nirgendwo ein Kabel war. Menschen sind gestorben wegen Witzen. Die meisten Männer, die nachts abgeholt wurden, wurden verschleppt, weil irgendwer zufällig ihren blöden Witz mitgehört hatte. Habe ich dir schon den Witz über die Katze und den Senf erzählt?«
    Um Mitternacht kam Tim plötzlich zu mir, setzte sich neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Da ist noch etwas in Bezug auf Oz «, sagte er. Er sah sehr betrunken aus, hörte sich aber nicht so an. »Ich glaube, ein Teil des Reizes liegt darin, dass es diesen Kerl gibt, der alles reparieren kann. Alle gehen zum Zauberer, um normal zu werden, weißt du? Deshalb zieht er manche Kinder an. Aber dann funktioniert es nicht, und das Buch versetzt ihnen damit, dass er ein Schwindler ist, einen unerwarteten Schlag. Und das ist es, was nachwirkt, denn tief in sich drin hatten sie es die ganze Zeit gewusst.« Dann rülpste er und lachte über sich selbst.
    In dieser Nacht schlief ich, mit dem Bier im Bauch, schnell ein. Ich schlief wie immer, mit dem rechten Arm unter dem Kopf nach oben gereckt, als wäre ich die Freiheitsstatue, als wollte ich, die Ahnungslose, den Weg für die anderen erhellen.

12
    Die Woche davor
    Jeder, der jemals solche Geschichten gehört hat, in denen eine Frau unüberlegt handelt und alles wegwirft, was sie hat, wird danach suchen, wovor ich weggerannt bin. Denn ich rannte mit Sicherheit vor irgendetwas davon. Ich musste mit meinem Leben zutiefst unzufrieden gewesen sein. Oder ich hatte eine missglückte und peinliche Affäre hinter mir, oder ich wollte nicht zugeben, dass ich unterbewusst in Rocky verliebt war, oder ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin, weil ich, man mag es glauben oder nicht, Analphabetin war. Ja, das war’s! Ich war eine analphabetische Bibliothekarin und musste weglaufen, weil ich Rocky Geld gestohlen hatte, nachdem er mein Herz wegen seiner Affäre mit Loraine gebrochen hatte.
    Nein. Da war nichts. Ich erreichte den Siedepunkt nicht; ich köchelte nur langsam. Zugegeben, ich fand meinen Job nicht gerade prickelnd. Ich hatte immer gedacht, ich würde mit sechsundzwanzig etwas Großartiges aus meinem Leben machen. Hannibal war ein bisschen stickig. Ich war ziemlich gelangweilt. Doch das alles eignete sich nicht als Grund oder Entschuldigung oder auch nur als Motivation für das, was ich tat. Falls mich das irgendwie selbstlos aussehen lässt, so, als hätte ich alles nur für Ian getan, dann ist das nicht beabsichtigt. Ich war eher unglücklich, und das hatte ziemlich viel damit zu tun.
    Unglücklich, ahnungslos, ziellos. Selbstlos nur aus Nachlässigkeit. Eine Hull, durch und durch.
    So war es also: Ich hatte keinen besonderen Grund wegzugehen, keinen triftigen Grund, mein Leben hinzuwerfen. Es gab aber auch nicht viel, was mich hielt.
    Der Ausschlag auf meinen Beinen war zu einem dicken, roten Schorf geworden. Nachdem auch die fünfte verschreibungspflichtige Lotion wirkungslos geblieben war, sagte meine Ärztin Dr. Chen, ich solle mehr schlafen. »Und trinken Sie mehr Wasser«, sagte sie. »Manchmal versucht unser Körper, uns etwas mitzuteilen.«
    In jenem März bildete der Schnee eine Kruste auf dem Gras, aber die Parkplätze waren voll von braunem Schneematsch. Jeden Morgen dachte ich daran, mich krankzumelden.
    Rocky und

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