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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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ihn auf dem Parkplatz wieder. Ich war überrascht, dass er auf mich gewartet hatte, dass er nicht weggerannt war. Vielleicht hatte ich gehofft, dass er weglaufen würde. Aber er war noch hier, stand im Regen neben meinem kleinen hellblauen Auto. Er wollte nach Hause.
    Ich setzte mich auf den Fahrersitz und machte die Beifahrertür von innen auf, bevor ich verstand, dass er auf die hintere Tür wartete. Schlagartig wurde mir wieder klar, dass er erst zehn Jahre alt war, dass er auf den Rücksitz gehörte, wahrscheinlich noch gebadet wurde und vielleicht ein Nachtlicht hatte. Er stieg ein und suchte den Gurt. Ich versuchte mich zu erinnern, ob bei mir je jemand hinten gesessen hatte. Ich ließ das Auto an, und National Public Radio schmetterte irgendetwas über den Start einer Raumfähre. Ich schaltete das Radio aus, und wir fuhren den Waxwing Boulevard hinunter. Ich fragte nicht nach seiner Adresse, weil ich mich in den Wohngegenden der Stadt nicht gut genug auskannte. Aber er gab mir vom Rücksitz aus Anweisungen, sprach direkt in mein Ohr.
    »Beim nächsten Stoppschild musst du links abbiegen«, sagte er. »Jetzt noch einen Kilometer geradeaus! Dann wieder links und danach sofort rechts!«
    »Ian«, sagte ich nach einer Weile, »ich glaube, du lässt mich im Kreis fahren.« Ich war mir nicht ganz sicher, aber es dauerte einfach zu lange und ich wusste, dass er normalerweise zu Fuß zur Bibliothek kam.
    »Nein«, rief er, »nein. Wenn du genau nach vorn schaust, dann ist es das letzte Haus auf der linken Seite.«
    Ich schaute nach links, bis ich ein großes, gelbes Haus sah mit exakt konisch getrimmten kleinen Pinien am Zaun. Wir hielten. Die Zeitung steckte noch am unteren Ende der Auffahrt in der orangefarbenen Plastikbox, und ein kleiner alter Mann rannte, eine Zeitschrift zum Schutz gegen den Regen über dem Kopf haltend, von seinem Auto ins Haus.
    »Ian, das ist nicht dein Vater.«
    Er schaute aus dem Fenster. »Ja, du hast recht.«
    »Ist das trotzdem euer Haus?«
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Du bist dir nicht sicher ?«
    »Na ja, sie haben das Haus neulich gestrichen, und es sieht irgendwie anders aus, so dass ich es nicht erkenne.«
    Ich schloss meine Augen. »Okay, wir fahren zur Polizei.«
    Auf dem Rücksitz herrschte Schweigen. Ich schaute in den Rückspiegel, er war nicht zu sehen. Ich hielt den Wagen an, machte meine Tür auf, bereit, loszurennen und ihn zu schnappen, wenn er wegrannte, doch dann sah ich ihn hinten auf dem Boden sitzen, zusammengekauert, die Arme um den Kopf gelegt wie bei einer Bombenübung. Sein ganzer Körper war vom Weinen oder Würgen verkrampft, ich konnte es nicht genau erkennen. Seine Brille und der Mantel lagen auf dem Rücksitz.
    Ich machte die Tür auf, setzte mich neben ihn auf den Boden und legte meine Hand auf seinen Rücken. Sein Hemd war warm und nass und klebte ihm am Körper. Er sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte.
    »Was?«
    Er hob den Kopf, gerade hoch genug, um sich die Nase mit dem Ärmel abzuwischen. » Bitte , du sollst ganz einfach für eine Weile weiterfahren.«
    In meinem Kopf bildete sich Nebel, wie von Alkohol oder von einem Traum, und ich wusste, ich würde es tun, schon weil ich ihn nicht gegen seinen Willen zur Polizei bringen wollte, um so sein Vertrauen für immer zu verlieren, und ich wollte ihn nicht mit nach Hause nehmen und ich wollte ihn nicht mitten auf der Straße stehenlassen. Erst einige Stunden später begriff ich, dass ich ihn zur Bibliothek hätte zurückbringen und auf Rocky hätte warten müssen. Ein paar Tage später fiel mir etwas noch viel Offensichtlicheres ein: Seine Adresse und seine Telefonnummer waren in der Computerdatei gespeichert, direkt unter seinem Namen und seiner Mahngebühr von zwölf Dollar. Aber ich hatte nicht klar denken können, als er weinte. Vielleicht konnte ich auch an nichts anderes denken als an sein Weinen. Vielleicht war das etwas, was ich mir insgeheim schon immer gewünscht hatte: ihn aus Hannibal wegzuschaffen, wenn auch nur für kurze Zeit. Aber ich hatte es mir nicht so buchstäblich gewünscht.
    »Wo soll ich hinfahren?«, fragte ich.
    » Irgendwo hin«, antwortete er. »Zum Haus meiner Großmutter.«
    Ich wusste, dass er keine Großmutter hatte.
    »Okay«, sagte ich.

14
    Hinab in das Kaninchenloch
    Und so machten sie sich auf den Weg, unsere Freunde, die Bibliothekarin und der aufgeweckte Junge, als ein plötzlicher Wind das Gras auf den Wiesen niederdrückte und gegen das Auto schlug, es

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