Ausgeliehen
ich waren schon seit zwei Monaten nicht mehr im Kino gewesen. Wenn ich ihn fragte, was los sei, sagte er etwas wie: »Jede Menge Nora Roberts.«
»Ja, aber wie geht es dir ?«
»Hervorragend.«
Eines Nachmittags kam Ian die Treppe herunter, mit geröteten Augenlidern, als habe er geweint oder sein Gesicht an einer Katze gerieben. Er grüßte mich auf seinem Weg zur neuen Science-Fiction-Auslage, die ich mit Außerirdischen aus Alufolie dekoriert hatte, und sagte dann: »Mr Walters hat gesagt, man soll ihm Heftklammern nach oben schicken.« Mr Walters war Rocky, und ich fragte mich, warum er mich nicht anrief oder mir eine Mail schickte. Als Ian zehn Minuten später Die Wichtelreise auslieh (oder besser: als ich es auf meinen Namen ausgeliehen hatte und zusah, wie er sich das Buch in die Hose stopfte), drückte ich ihm eine Schachtel mit Heftklammern in die Hand und bat ihn, sie nach oben zu bringen. In der letzten Zeit blieb Ian nicht lange in der Bibliothek. Seine Nägel waren zur Hälfte abgekaut.
»Ist Mr Walters dein Freund?«, fragte er. Er balancierte die Heftklammernschachtel auf seinem Kopf und breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.
»Nein, ich habe einen anderen Freund.« Es gefiel mir nicht, dass ich das Gefühl hatte, ich müsse die Sache dringend richtigstellen.
»Mr Walters sollte dein Freund sein. Er hat ein rotes Kreuz.«
»Ein was?«
Ian drehte sich um, und die Schachtel fiel zu Boden. Er stellte sie wieder auf seinen Kopf und hielt sie mit einer Hand fest, als er die Treppe hinaufging. »Ich habe vergessen, was es ist«, rief er zurück. »Ein rotes Etwas. Ich bin eine nigerianische Frau und durchquere die Sahara.«
»Viel Glück.«
Als ich losging, um auf der anderen Straßenseite zu Mittag zu essen, wollte ich Rocky fragen, ob er wisse, was Ian mit dem roten Kreuz gemeint haben könnte. Aber Rocky war hinten im Büro, auch als ich zurückkam. Ich hatte das Gefühl, er wollte, dass ich danach fragte, was los sei, aber ich hatte keine Lust auf dieses Spiel.
Und hier sollte die Geschichte enden, und manchmal, wenn ich hier sitze und meine Knie gegen den Tisch drücke, die flachen Tastenanschläge der Studenten mit ihren Laptops höre und warte, dass die Sonne im Fenster untergeht und mich mit ihrem roten Licht blendet, da denke ich, das war das Ende, und alles, was danach kam, war ein Traum. Dass ich vielleicht jetzt nur zurückblicke und mir vorstelle, was passiert wäre, wenn ich es getan hätte , obwohl ich es aber in Wirklichkeit nicht getan habe. Wenn ich die nächsten fünf Jahre damit verbracht hätte, ruhig in Hannibal zu leben, zu beobachten, wie Ian elf und dann zwölf wurde, wenn ich irgendwann festgestellt hätte, dass ich ihn eine Weile nicht in der Bibliothek und später nur ein paarmal im Jahr auf dem Bürgersteig gesehen hätte, wenn ich an ihm vorbeigefahren wäre, wenn ich mich gefragt hätte, wie er jetzt so lebte, ohne das Bedürfnis zu spüren, das Fenster herunterzudrehen und ihn zu rufen.
Aber nein, es ist geschehen. Das Einzige, worüber man diskutieren kann, ist, ob es mir passiert ist oder ob ich bewirkt habe, dass es passiert.
13
Hinaus aus der Hobbithöhle
»Ma-me-mi-mo-mu«, sang Tims Wand am Montagmorgen um sechs.
»Ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti!
To sit in solemn silence in a dull dark dock,
in a pestilential prison with a life-long lock,
awaiting the sensation of a short sharp shock,
from a cheap and chippy chopper on a big black block!
IiiiiiiiiiIIIIIIIIIIIIIIiiiiiiiiii!«
»O mein Gott«, sagte ich am Montagmorgen um sechs Uhr durch mein Kissen zu Tims Wand, »o mein Gott, halt’s Maul.«
»Eaaaiiioua, eio, ae«, sagte die Wand, das war Tims Übung, das Ganze ohne Konsonanten zu wiederholen.
Draußen braute sich ein typischer Mittlerer-Westen-Sturm zusammen, der erste des Jahres, und der immer stärker werdende Donner hörte sich an wie Müllcontainer auf Kies oder wie Gott, der Felsen kaut. Der Wind war fast so laut wie der Donner, und ich war mir nicht sicher, ob meine Fenster nicht aus ihren morschen Rahmen brechen würden. Ich dachte daran, Musik einzuschalten und mich wieder hinzulegen, aber ich konnte es nicht ertragen, den Geräuschpegel noch weiter zu erhöhen.
Ich zwang mich, Jeans und Wanderstiefel anzuziehen, dann rieb ich mir den Rücken drei Minuten lang an der Kante meines Kleiderschranks wie eine psychotische Katze. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Haut vollkommen wund gerieben wäre, bis mich
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