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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Kraftriegel.«
    »Magst du ein Snickers?« Jetzt redete ich auch noch wie eine Kidnapperin.
    »Ich glaube nicht, dass du hineingehen solltest«, sagte er. Sein Gesicht wurde wieder rot. War das sonst nicht umgekehrt? Kidnapper halten an einer Tankstelle, drohen dem Opfer, das Auto ja nicht zu verlassen, und das Opfer flieht auf die Autobahn.
    »Ian, ich muss bezahlen. Die Zapfsäule kann meine Karte nicht lesen.«
    Er öffnete seinen Gurt und sprang aus dem Auto. »Gut, dann komme ich mit, und ich möchte ein Milky Way.«
    Im Tankstellenshop wartete ich, bis er sich in das Süßigkeitenregal vertieft hatte, und sagte dann, ich müsse auf die Toilette. Er dachte kurz nach. »Gib mir vorher dein Handy.«
    Ich legte es in seine Hand. »Möchtest du jemanden anrufen?«
    »Nein.«
    Für mich kaufte ich Chips und Mineralwasser, und auf dem Weg nach draußen hob ich am Geldautomaten zweihundert Dollar ab. Ich hasste es, so weit weg von zu Hause zu sein und kein Bargeld zu haben, und nach meiner Rechnung müssten zweihundert Dollar für unterwegs ausreichen, notfalls auch für ein Abendessen. Ich stellte mir vor, wir könnten bei einem netten Kettenrestaurant einen Stopp einlegen und alles besprechen, bevor ich ihn zu Hause oder bei einer Polizeistation abliefern würde.
    Als ich wieder im Auto saß, verlangte ich mein Handy zurück und war erleichtert, als er es mir gab. Er hätte es wegwerfen oder in der Herrentoilette im Klo hinunterspülen können. »Das wird mir jetzt zu dumm«, sagte ich, »du hast zwei Minuten Zeit zu entscheiden, wen wir anrufen sollen. Wir können deine Eltern anrufen, die Polizei oder irgendeinen Verwandten.« Er antwortete nicht. »Oder vielleicht die Mutter von einem deiner Freunde.«
    Er grinste in den Rückspiegel. »Rate mal, warum nicht.«
    »Weil du das nicht willst.«
    »Nein. Weil wenn du sie anrufst, werde ich behaupten, du hättest mich gestern aus der Bibliothek entführt und du würdest mich nicht gehen lassen.«
    Sein Grinsen hätte auch bedeuten können, dass es nicht ernst gemeint war, aber er sah auch aus, als würde er gleich weinen.
    »Ich glaube nicht, dass du das tun würdest«, sagte ich. (Es war so, wie ich mir immer vorgestellt hatte, dass ich zu einem bewaffneten Verrückten sprechen würde: »Aber Sie sind doch ein guter Mensch, Sie wollen mir doch nicht weh tun.«)
    Er dachte kurz nach. »Doch, das würde ich bestimmt tun. Und ich würde ihnen alles über das Innere deines Autos erzählen, und das wäre dann der Beweis.«
    »Und wie willst du deinen Rucksack erklären?« Ich bog wieder auf die Straße ein und fuhr in die Richtung, in der, wie ich hoffte, Hannibal lag. Und ich hoffte auch, er wäre zu sehr in Gedanken versunken, um es zu merken.
    »Ich werde ihn wegwerfen. Und wenn ich keine Zeit habe, ihn wegzuwerfen, werde ich sagen, du hast mir gesagt, ich soll einen Rucksack für eine Lesenacht in der Bibliothek packen, aber als ich ankam, hast du ein Messer hervorgeholt und mich gezwungen, ins Auto zu steigen, weil du immer ein Kind haben wolltest und jetzt hättest du eins.« Ich fragte mich, ob er sich das gerade erst ausgedacht hatte, oder während der Nacht in der Bibliothek, oder schon vor Monaten.
    Ich will nicht lügen: Irgendwie war es erleichternd zu wissen, dass ich mich nicht entscheiden musste, zu wissen, dass ein telefonischer Hilferuf jetzt endgültig vom Tisch war. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, nicht die Schuldige zu sein.
    Doch dann fing er wieder an zu weinen, und ich konnte ihm noch nicht einmal böse sein. Er war verzweifelt und er war zehn Jahre alt.
    Er gab mir keine Richtungsanweisungen mehr, und das Klügste, was ich machen konnte, war, weiterhin nach Osten zu fahren, Richtung Hannibal, und sei es auch nur, um mehr Möglichkeiten zu haben.
    Die beiden Reisenden sprachen nicht viel miteinander an diesem Nachmittag, beide waren müde und verunsichert, obwohl sie Essenspausen einlegten und viele Spiele spielten, mit Straßenschildern, mit dem Alphabet, mit den Nummernschildern vorbeifahrender Autos. Einmal, nach längerem Schweigen, richtete sich der Junge auf und begann laut zu singen, mit einer Stimme, so hoch wie ein schwebender Ballon:

    »Speed, bonny boat, like a bird on the wi-hing!
    Onward! the sailors cry;
    Carry the lad, that’s born to be Ki-hing
    Over the sea to Skye-hye-hye-hye-hye!«

    Die Bibliothekarin lächelte. »Wo hast du das gelernt?«, fragte sie.
    »In der Schule«, antwortete der goldgesichtige Junge. »Hast du

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