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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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einen Kaugummi?«
    Die Bibliothekarin antwortete, sie habe keinen, und der Junge begann, seine Zunge zu kauen.
    »Weißt du, du siehst aus wie eine Kuh, wenn du das machst«, bemerkte die Bibliothekarin, und beide lachten herzlich, als sie die Grenze zum Nachbarstaat passierten.

    Ich dachte, wir seien auf der richtigen Straße, und falls es Straßenschilder gab, die auf die nächste Großstadt hinwiesen, so übersah ich sie entweder oder ich war nicht konzentriert genug, um sie zu lesen. Ich wusste, dass wir schon eine ganze Weile in Richtung Osten fuhren, und weil wir am Anfang Richtung Westen gefahren waren, hielt ich den Weg für richtig. Wir fuhren über eine lange Brücke, die ich nicht besonders beachtete, bis ich das Schild sah: »Cairo, Illinois – Herzlich willkommen!« Das konnte ich lesen. Wir waren über den verdammten Mississippi gefahren, ohne dass es mir aufgefallen war.
    Auf der anderen Straßenseite, der Seite, die zur Brücke zurückführte, wurde der Verkehr von drei Polizeiwagen aufgehalten. Mir blieb sekundenlang fast das Herz stehen, ich dachte, sie suchten uns, bis ich begriff, dass wir in die andere Richtung fuhren. Sie suchten nach Betrunkenen oder Ausreißern oder nach beidem, aber nicht nach uns. Noch nicht.
    Es war 13:16 Uhr. Wenn wir nun schon sechs Stunden durch die Gegend gekurvt waren, würde es mindestens vier oder fünf Stunden dauern, um auf direktem Weg zurückzufahren. Sogar noch länger, weil ich eine andere Brücke zurück nach Missouri finden müsste. Bis dahin wäre Ian schon vierundzwanzig Stunden lang vermisst, genug Zeit für die Polizei, überall Straßensperren zu errichten. Wenn sie mein Auto näher kommen sahen, mit Ian auf dem Rücksitz, würde ich keine Zeit haben, irgendetwas klarzustellen, bevor sie mich herausgezerrt hätten und Ian seine Geschichte erzählen lassen würden.
    Das Beste, was ich tun konnte, war, so lange zu fahren, bis Ian müde war, bis er seine Familie vermisste und sich einverstanden erklärte, mich nicht hineinzuziehen. Die meisten Kinder geben die ganze Ausreißerei ja nach, sagen wir mal, einem oder zwei Tagen auf. (Ich dachte an Kinder, die sich mit einem Glas Essiggurken und einem Teddybär in ihrer eigenen Garage verstecken und von denen ihre Eltern genau wissen, wo sie sind.) Und in der Zwischenzeit hätte er einen netten Urlaub von seiner Mutter und von Pastor Bob. Ich könnte ihm irgendwelche herausragenden schwulen Vorbilder präsentieren. Ich könnte ihm Das ägyptische Spiel zu lesen geben. Wir könnten den Zauberer finden.
    Endlich dachte ich klar genug, um zu begreifen, dass ich in der Bibliothek anrufen sollte, und zwar sofort, sonst hätte die Polizei in Hannibal bald zwei Vermisstenanzeigen am Hals, und es würde nicht lange dauern, bis sie die beiden Fälle in Verbindung bringen würde. Und was den kommenden Samstag betraf, das war genau der, über den ich Rocky angelogen hatte, ich hatte gesagt, ich könne nicht zur Hochzeit seiner Kusine kommen – ich hatte dieses Datum in meinem Kopf gespeichert und mir vorgenommen, wenigstens den einen Tag freizunehmen, damit ich sagen könnte, ich hätte das Field Museum besucht –, und mit dieser Lüge könnte ich doch weitermachen. (Wie hübsch, mitten in etwas, was sich wie der erste Akt einer griechischen Tragödie anfühlte, dieses kleine Glück zu entdecken.) Ich könnte Ian zurückschicken, sobald er dazu bereit wäre, und dann selbst den Rest der Woche wegbleiben und so tun, als wäre es ein geplanter Urlaub. Es wäre schön, ein bisschen Zeit zum Erholen zu haben.
    Wenn ich Rocky jetzt anrief, bevor die Polizei vorbeikam, bevor er einen Grund hatte zu denken, dass ich log, könnte er auf die Idee kommen, er hätte schon die ganze Zeit von diesem Urlaub gewusst. Und wenn ich ihm keine Einzelheiten erzählt hatte, dann lag das nur daran, dass er mich in der letzten Zeit ignoriert hatte. Und wenn ich dann Loraine anrief und sie sich bei ihm rückversichern würde, würde Rocky mir nur allzu gern Rückendeckung geben. Das taten wir instinktiv alle füreinander, nicht aus Kollegialität, sondern eher aus dem Gefühl heraus, dass es besser sei, falls Loraines Erinnerung gegen das Wort eines anderen stand, der Person zu glauben, deren Gedächtnis nicht von Wodka umnebelt war.
    Ich hielt am Straßenrand und sagte: »Du kannst dieses Gespräch mithören. Wenn ich nicht sofort in der Bibliothek anrufe, werden sie sich wundern, wo ich bleibe, und sie werden die Polizei hinter mir

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