Ausgeliehen
Mercedes konnte man damit nicht kaufen.«
Ich schaltete wieder ab, als meine Mutter ins Zimmer kam, die Augen verdrehte und das leere Bierglas in die Küche trug. Wenn ich es mir überlegte, musste ich zugeben, dass ich nicht wusste, wie viel von der Geschichte überhaupt stimmte. Manchmal erzählte er, Stalin habe im Radio eine bedeutende Rede über die Stadt gehalten, die keine Schokolade mehr brauchte. Ein andermal waren er und Sergej vom Bürgermeister persönlich erwischt worden, sie hätten ihn aber mit hundert Schokoladenriegeln bestochen und er habe zwei Jahre lang geschwiegen, bis der Briefträger sie schließlich erwischte. Manchmal hatten sie ein Vermögen verdient, dann wieder hatten sie die Schokolade gratis verteilt, als Geste des politischen Widerstands. Bis dahin war es mir aber nicht in den Sinn gekommen, dass die ganze Geschichte erfunden sein könnte, dass die Idee einer Schokoladenfabrik im Untergrund einfach ein bisschen zu gut war, um wahr zu sein. Es quälte mich mehr, als ich erwartet hatte.
Sogar jetzt, fünf Jahre später, weiß ich, dass das Russland, das ich im Kopf habe, eine Lüge ist. Meine kognitive Landkarte der Heimat ist voller Phantasien, ähnlich wie alte Weltkarten, die den Atlantik mit Nixen und Seeungeheuern zeigen: Da, im Norden Moskaus, ist die Schokoladenfabrik meines Vaters; dort macht Raskolnikow auf der Treppe eine Pause; hier hängt Iwan Iljitsch Gardinen auf; da fließt die Wolga, in der Flüchtlinge treiben; dort zeigt sich Gogols Nase; da werfen mutige Bürger Steine gegen eine Stalin-Büste; hier fliehen die Kinder der Romanows in die Nacht, die Taschen vollgestopft mit Gold; und dort oben ist Sibirien, wo mein Großvater den Weg nach Hause entlangstolpert. Durch das Ganze schlängelt sich ein dünner Faden Wahrheit: die Straße, die der Bus mit meinem Schulchor nahm, von Perm nach Jekaterinburg bis Tscheljabinsk, von der Konzerthalle zur Kathedrale, vorbei an mit Graffiti beschmierten Betonwänden, an Reihenhäusern mit Wäscheleinen.
Aber das Amerika meines Vaters und seiner Freunde war auch eine Lüge gewesen, bevor sie auf der Rollbahn landeten: Toiletten, die nie verstopft sind, Kinder, die auf der Straße singen, ein Filmstar an jeder Ecke, Marlboro-Zigaretten umsonst. Vielleicht lebten sie ja alle noch in ihrem Traum von Amerika. Schließlich war es das Land, in dem Milch und Honig fließt – warum dann nicht die Milch umsonst vom Flur nehmen? Warum nicht den Honig aus dem Laden klauen?
Ich frage mich, zu welchen Phantasiegeschichten ich imstande bin, von meinem Wesen und meiner Erziehung her. Ich frage mich auch, wenn ich an die Zeit in Hannibal zurückdenke, wie viel ich auf Ian projiziert habe. Und ich frage mich, inwiefern ich unsere Reise wahrheitsgemäß in Erinnerung habe, und was er wirklich gesagt hat und ob ich ihn im Rückspiegel habe weinen sehen und es nur verdrängt habe.
Und ich frage mich, ob das alles überhaupt passiert ist. Manchmal denke ich morgens, bevor ich die Augen aufmache, dass ich Hannibal nie verlassen habe, und versuche, diesen Traum abzuschütteln. Oder ich versuche zu denken, dass ich im Gefängnis bin. Wenn ich dann aber die Augen aufmache, sehe ich die Wände meiner neuen Wohnung und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Deshalb ziehe ich vielleicht diese neue Bibliothek meinem Schlafzimmer vor. Wenn ich die Millionen Buchrücken betrachte, kann ich mir Millionen anderer Enden vorstellen. Es stellte sich heraus, der Butler hatte es getan, oder ich heiratete am Ende Mr. Darcy oder wir gingen zum Central Park und sahen ein Mädchen auf dem Karussell, oder wir kämpften in unseren kleinen Booten gegen den Strom, oder Atticus Finch war da, als wir morgens aufwachten.
Oder noch besser ist, wenn ich mir vorstelle, dass die Geschichte noch nicht geschrieben wurde, dass wir noch Zeit haben, alles zu ändern.
Ian ging früh schlafen, hingerissen vom Zimmer und der Luftmatratze, und meine Eltern kochten Kaffee und überschütteten mich mit Fragen über Janna Glass. Wir saßen um den Tisch, und ich bemühte mich, aufrecht zu sitzen, um den Eindruck zu erwecken, ich sei wach und empfände keinerlei Panik. »Welche war es eigentlich?«, fragte meine Mutter, und ich war froh, dass ich die Jahrbücher der Schule im Jahr zuvor nach Hannibal mitgenommen hatte, so konnte sie Janna nicht nachschlagen und ihre schwarzen Kräuselhaare und die riesigen Augen sehen. Nie im Leben hätte sie Ians Mutter sein können, ebenso wenig wie
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