Ausgeliehen
dass er vermutlich in Hunderten von verschiedenen Büchern vorkommt. Es gibt ihn in einem Theaterstück von Shakespeare, und alle griechischen und römischen Autoren haben die Figur benutzt. Ein paar Kriegsszenen sind vermutlich ziemlich brutal, aber ich würde sowieso die meiste Zeit im Shakespeare verbringen.«
»Und du könntest in D’Aulaires Griechische Mythen sein.«
»Definitiv.« Dazu brauchte man keinen Psychoanalytiker: Ich wollte derjenige sein, der seinen Weg aus dem Labyrinth findet, der den Faden bis zu seinem Ursprung zurückrollen kann.
»Gut, die andere Sache ist, wenn du als Schriftsteller in den Himmel kommst, dann gelten für dich andere Gesetze. Dann kannst du in jeder Geschichte leben, die du jemals geschrieben hast, und du kannst zwischen den verschiedenen Personen hin und her springen. Also könnte Roald Dahl an einem Tag der GuRie sein und dann wieder Charlie oder der Tausendfüßler im Pfirsich.«
»Erzähl mir doch mehr von deinem Freund Michael.«
»Er ist überhaupt nicht mein Freund. Er ist definitiv ein Popler.«
»Hast du andere Freunde in der Klasse?«
»Wir sind die ganze Zeit sehr beschäftigt. Die lassen uns wirklich nicht viel Zeit zum Unterhalten. Gut ist, dass sie uns manchmal Donuts geben. Weißt du, was gut ist? Wenn du je ins Gefängnis kommst, kannst du in deinem Beruf weiterarbeiten. Die haben doch Bibliotheken in den Gefängnissen, oder? Hey, noch zehn Sekunden bis New York!« Wir konnten die großen Schilder vor uns sehen mit den örtlichen Verkehrsregeln und Informationen für Touristen. Ian nahm seine Mütze ab und begann »Erie Canal« zu singen.
Ich fragte mich, ob die Liste der Straftaten mit jedem Staat, durch den wir gefahren waren, angewachsen war oder ob die erste Grenze bereits die Spitze der Kriminalität bedeutete. Mir fiel auf, dass sich der Asphalt unter den Rädern besser anfühlte, als wir auf den Straßen fuhren, die zum New Yorker Straßenbauamt gehörten. Es gab mir das Gefühl, dass alles offizieller und monumentaler war, auch wenn ich mir einen großen Bogen gewünscht hätte, unter dem ich hätte durchfahren können. Ein Schild »Anschnallpflicht« ist lange nicht so anziehend, wie durch ein Stadttor oder über einen Grenzübergang zu fahren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie persische Abgesandte Rom über die Via Appia erreichten und ein Schild sahen, auf dem nur stand: »Kontrollieren Sie Ihr Pferdegeschirr«, sonst nichts. So ging das nicht. Etwas war verloren gegangen. Nicht dass ich jetzt unbedingt einen Grenzübergang gebraucht hätte.
Als ich mit dem Schulchor die Grenze zum postkommunistischen Russland im Bus überquert hatte, hatte ich mich außerordentlich privilegiert gefühlt und mich bemüht, an meinen Onkel zu denken, der gestorben war, als er versucht hatte, Russland zu verlassen, und an meinen Vater, der weggelaufen war und mit einem gebrochenen Bein schwimmen musste. Und ich? Mein Pass war nur flüchtig von einem stämmigen Grenzpolizisten kontrolliert worden, der in den Bus gestiegen war. An meinem amputierten Nachnamen, meinen geraden Zähnen und meinen Sneakers konnte er nicht merken, dass ich mich als Russin ansah. Dass die geklaute Wäsche von der Reinigung, der aufgespießte Kopf und der schreckliche Witz über die Katze und dem Senf mir das Gefühl gab, eher Russin als Amerikanerin zu sein. Damals hatte ich ernsthaft überlegt, auszuwandern.
Und nun, älter und auf der Flucht – zwar nicht aus meinem Land, aber vor allem, was ich kannte –, fühlte ich mich ein bisschen realer. Ehrlich gesagt ist es im Zeitalter der Billigflüge, der E-Mails und der günstigen Ferngespräche schwer zu ermessen, was es für meinen Vater und seinen Bruder bedeutet hatte, zu packen und wegzugehen, zu begreifen, dass sie die Menschen, die sie in den ganzen zwanzig Jahren ihres Lebens gekannt hatten, nie wiedersehen würden, dass sie entweder in den Pullovern, die sie trugen, sterben oder sie in den nächsten drei Monaten nicht mehr ausziehen würden, dass sie, die ein so wunderbares Russisch sprachen, hilflose Fremde mit Akzent werden würden. Dass ihre Kinder an einem anderen Ort ihre Heimat haben würden.
Ich fragte mich, ob ich wirklich das Land verlassen könnte, wenn sie erst anfingen, nach mir zu suchen, und meine Fahndungsfotos in allen Postfilialen ausgehängt wären. Ian würde ich nach Hause schicken, ich selbst würde mit Anjas Münzen nach Kanada fliehen und nie mehr zurückkommen. Irgendwie gefiel mir der Gedanke.
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