Ausgerockt - [Roman]
stellte den Motor ab. Sie stiegen aus. Linus folgte Holger in den Park.
»Was willst du mit dem Garantie-Heft?«, fragte Linus, während er sich den Schultergurt der Kamera um den Hals legte. Sie hatte ein beachtliches Gewicht. Linus war froh, dass noch ein Gurt vorhanden war.
»Oh.« Holger schien von dem Heft in seiner Hand überrascht zu sein.Sie liefen am Hollersee, einer imposanten Wasseranlage des Hotels im Bürgerpark, entlang. Das weiße Gebäude mit seiner Dachkuppel erinnerte an ein fürstliches Anwesen. In der Mitte des Sees sprudelte eine Fontäne.
Als sie sich dem Haupteingang des Hotels näherten, sah Linus unter einem gebogenen Vordach aus Metall und Glas hunderte lärmende Menschen.
Wie die Mitglieder einer riesigen Therapiegruppe, so schien es aus der Entfernung, brachte jeder seine Gefühle durch ganz individuelle Gesänge oder Geräusche zum Ausdruck. Es waren überwiegend junge Menschen, Kinder, Jugendliche, vereinzelt auch junge Erwachsene, die durcheinanderquakten, kreischten, sich gegenseitig bejubelten. Ein junges Mädchen weinte, zwei andere trösteten es.
Linus verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Sein Blick blieb an einem Schild hängen, das mit Drähten an einer Laterne befestigt war. In der rechten oberen Ecke des Schildes prangte auf blauem Grund das rot-weiße Kanal 7-Logo. Darunter stand:
Die VO R -VORRUNDE – Großes DSDM Städte-Casting.
Am 07. + 08. April, Beginn: 10 Uhr, Bremen, Park Hotel.
Holger ließ zweimal seine Augenbrauen hochschnellen. Ein unheilvolles Zeichen. Deutschland sucht den Megastar also.
Linus folgte ihm, mit Zitronengesicht, durch die zappelnde Masse junger Menschen.
Sie drängelten sich an einer Schlange vorbei und kamen in eine imposante Kuppelhalle. Euphorischer Lärm hallte von der hohen Kuppel herab und verstärkte sich dadurch zu einem unwirklichen Geräuschebrei.
Die Szene entsprach Linus’ Vorstellung von einem hoffnungslos überfüllten Kinderhort für schwer Erziehbare. Sie drängelten und schubsten sich, und natürlich ignorierten sie Holger und Linus.
Eine hippe Rothaarige in engem Playboy-Shirt hüpfte mit einem Radio-Energy-Mikrofon umher und führte kurze Interviews. Nahezu jeder Anwesende hatte einen Sticker des DSDM-Logos und eine vierstellige schwarze Nummer am Körper.
Holger klopfte einem schmächtigen Jungen mit modisch tiefergelegter Jeans und wirkungslosen Hosenträgern auf die Schulter: »Na? Aufgeregt?«
»Geht so, Mann« sagte der Junge. »Sind Sie von Kanal 7?«
Holger schlug sich mit der Kühlschrank-Garantie gegen die Brust und sagte: »Klar. Wir behalten dich im Auge. Ich glaube, du hast gute Chancen.«
Der Junge biss die Zähne zusammen und zischte ein agressives »Yessss!« durch die Lippen. Neben ihm standen zwei Mädchen. Stumm und mit verklärtem Gesichtsausdruck himmelten sie ihn an.
Holger ging weiter. Ein bösartiges Grinsen hatte sich in seinem Gesicht ausgebreitet.
»Das kannst du nicht machen«, sagte Linus.
»Mach dir keine Sorgen. Die lassen sich gerne verarschen.«
Linus war nicht der Meinung, dass Kinder sich gerne verarschen ließen. Sie hatten im Grunde die gleichen Träume wie er. Vielleicht hatten sie auf diesem Wege sogar bessere Chancen, sie zu verwirklichen.
Und auch wenn er die dümmliche Art einiger Casting-Kandidaten nicht mochte, so fühlte er doch mit ihnen. Ihre Träume wurden zur Einschaltquote verarbeitet.
Jemand rief: »Ey, Jacqueline, deine Väter sind da, ey, die holen dich ab!«
Einige Jugendliche sahen Holger und Linus an und lachten sich kringelig.
Blitzartig sprang Holgers diabolisches Grinsen wie ein ansteckendes Virus auf Linus’ Gesicht über. Sein Mitgefühl endete da, wo er sich persönlich herabgesetzt fühlte. Wenn man ihn nicht ernst nahm oder auf seine Kosten Scherze machte, konnte er feindselig werden.
Der Junge, der den Witz auf ihre Kosten gemacht hatte, war ein Gangsterklon, die Statur kaum kräftig genug, um die schweren Goldketten-Imitate zu halten, und das Cappie lässig zur Seite gedreht. Linus schürzte die Lippen.
Du hältst dich also für die Hauptrolle, dachte er. Deine Väter sind da.
Er ging geradewegs durch die Menge auf den Jungen zu und blieb etwa zwei Meter vor ihm stehen. Er schob sich die Videokamera vor den Bauch.
Wer jung war und es daher nicht besser wusste, so dachte Linus plötzlich, konnte diesen überproportionierten Kameraklumpen ebensogut für eine professionelle Fernsehkamera halten.
Linus gab sich
Weitere Kostenlose Bücher