Ausgerockt - [Roman]
noch angestellt, auf Vierhundert-Euro-Basis. Ich habe Flaschen und Kisten sortiert.«
Der Mann lacht laut, aber als er merkt, dass Linus nicht mitlacht, verstummt er und sagt: »Tatsächlich? Na ja, muss es auch geben. Ich weiß gar nicht, wie es steht.«
Er nickt freundlich und geht auf den Rang.
Linus verlässt die Loge in die andere Richtung. Er läuft durch den offenen Gästebereich zur Toilette. Auf dem Rückweg besorgt er sich ein Bier und trinkt es im Gehen. Zurück in der Loge bestellt er sich ein weiteres, trinkt es im Sitzen.
Jana beobachtet ihn. Sie sieht besorgt aus. Als er grinst, guckt sie weg.
Er beobachtet fasziniert, wie seine Freundin in ansonsten kerzengerader Haltung ein Bein vorstreckt, ohne ihren Gesprächspartner dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ihre Hände spielen an einem Sektglas, die Konzentration auf ihr Gegenüber lässt sie streng wirken.
Es ist die Jana Laske, die er sonst nicht zu Gesicht bekommt, eine vollkommen andere Version seiner Freundin. Von der Existenz dieser Version hat er natürlich gewusst, doch eine konkrete Vorstellung hat er sich nie gemacht.
Einen Moment lang denkt er, er würde es nicht wagen, diese Freundin zu küssen.
Jana nutzt eine Gesprächspause, in der ihr Gesprächspartner einen Blick auf die Karte wirft, um zu ihm zu kommen. Endlich, denkt er.
Sie nähert sich seinem Ohr und sagt: »Kannst du mit dem Trinken mal ein bisschen langsamer machen?«
Er stutzt, denn es ist nicht das, was er sich zu hören erhofft hat.
»Die jubeln einem hier ständig ein volles Glas unter. Man merkt das gar nicht.«
Er kneift die Augen zusammen und beugt sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Sie wendet ihr Gesicht ab. Ein Kuss ist ihr in dieser Umgebung offensichtlich unangenehm.
Welch unglückselige Reaktion.
Ein kleiner blasser Mann, den die Nadelstreifen auf seinem Anzug optisch kaum vergrößern können, nähert sich forsch von der Seite. Er begüßt Linus, lächelt ihn kurz und breit an. Dann wendet der Mann sich an Jana. Sie schenkt ihm geduldig ihre Aufmerksamkeit. Es ist ihr Job, denkt Linus. Alles Job.
Verunsicherung ist ein Zustand, der sich mittelfristig verbergen lässt.Auch in ungewöhnlichen Situationen kann man Verunsicherung kompensieren. Auch wenn Verunsicherung sich in einen angstvollen Zustand steigert, sind die Auswirkungen noch kontrollierbar. Kurzfristig lässt sich auch die Angst kaschieren, es sei denn, der Betroffene steht unter dem Einfluss einer bewusstseinsverändernden Droge.
Linus’ Verunsicherung hat sich in Angst verwandelt, unbeschreiblich, ungreifbar und vor allem irrational. Und Linus ist ziemlich angetrunken. Die Zweifel brechen hervor wie Eiter aus einem pulsierenden Abszess.
Wer ist er, Linus Keller, dass er den Menschen gegenüber nur kühle Distanz aufbringt? Wer ist er, dass er Janas Chef bloß misstrauisch beobachtet, anstatt sich einmal für die Einladung zu bedanken? Wer ist er, dass er nur da sitzt und mürrisch durch die Gegend starrt, anstatt auf die Leute zuzugehen? Was mutet er seiner Freundin da zu?
Und was mutet sie ihm zu? Er gehört schließlich nicht hierher.
Er trinkt. Schluck für Schluck, den goldenen Fluss, sieht sich um, sieht die Anzüge, beißt die Zähne aufeinander und wünscht sich, sie könnten einfach von hier verschwinden. Nur sie beide, Jana und Linus.
Er läuft noch gerade, torkelt nicht, läuft zur Fensterfront, um sich die zweite Halbzeit anzusehen. Flüchtet im Geiste auf das Spielfeld. Und er trinkt. Es schmeckt ihm. Und dieses Gefühl schmeckt.
Dieses Gefühl, anders zu sein als die anderen hier. Fehler zu finden und zu erfinden, um sich besser zu fühlen. Niemals wird er zufrieden sein.
Keiner kommt mehr zu ihm, will wissen, wer er ist. Vielleicht guckt er zu ernst. Man hat ihm schon oft gesagt, er solle nicht so böse gucken. Vielleicht hat sich auch längst herumgesprochen, dass er niemand Besonderes ist.
Er fragt sich, ob es einen Punkt in seinem Leben gegeben hat, an dem er eine andere Entscheidung hätte treffen können.
Eine Entscheidung, die ihn auf die Seite der Anzüge gebracht hätte. Regelmäßig in einer exzellent ausgestatteten Loge Fußballspiele schauen, sich an den Köstlichkeiten bedienen, ein gefragter Gesprächspartner sein. Gelten.
Warum, warum nur meint er plötzlich, das könnte für ihn erstrebenswert sein? Es ist doch ohnehin alles zu spät.
Gelten. Er hasst sich für diesen Gedanken.
Aber er braucht verdammte Basisgeltung. Ihm fehlt die
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