Ausgerockt - [Roman]
Auskunft gab.
HNO, Gastro, Kardiologie, Psychiatrie, Urologie, Neurologie, Frauenärzte. Hier war die ganze Palette medizinischer Versorgung vertreten. Die Tafel endete oben mit einer Marketing-Agentur im vierten Stock.
»Hat er vielleicht Probleme mit einem Arzt?«, fragte Brunssen.
»Ich weiß nicht.« Linus zuckte mit den Schultern. Dabei fiel sein Blick auf eine Reihe mit Klingelschildern.
Obwohl er nicht glaubte, dass die Schilder mehr verrieten als die Tafel, suchte er erst die Reihe des rechten Gebäudeteils ab und machte dann ein paar Schritte, um die Klingelschilder am Eingang der linken Gebäudehälfte zu inspizieren.
Brunssen stemmte die Hände in die Hüften. Nachdenklich sah er zum Turm der Baumwollbörse hinauf und rief: »Vielleicht hat er Ärger mit dem Urologen!«
Linus beachtete ihn nicht. Sein Blick suchte die Schilder ab.
Brunssen schien jetzt Spaß an der Sache zu haben: »Oder das Marketing-Büro hat es abgelehnt, für seine unikate Beklopptheit zu werben.«
Linus winkte Brunssen zu sich, legte ihm eine Hand auf die Schulter und wies mit dem Kopf zu den Klingelschildern. Einen kurzen Moment dauerte es, dann sagte Brunssen: »Ach du Scheiße!« und Linus wusste, dass er es gelesen hatte.
»Seit wann haben wir MTV in Bremen?«, fragte Brunssen entgeistert.
»Ein kleines Büro gibt es hier schon länger. Die waren vorher nur nicht hier, sondern irgendwo in der östlichen Vorstadt. Ich war da mal mit Holger, eine Demo-CD abgeben.«
»Ich erinnere mich dunkel. Also sind sie umgezogen.«
Linus nickte. Sie drehten sich um und sahen wieder zum Turm hinauf.
Ab und zu sah man Holger am Geländer. Soweit man erkennen konnte, war er mit irgendetwas beschäftigt. Er schien Vorbereitungen zu treffen, für was auch immer.
Linus bemerkte plötzlich, dass die Meute auf dem Marktplatz etwas leiser wurde, bis das aufgeregte Geschnatter vorübergehend fast verstummte.
Aus der Ferne näherte sich das scharfe, schneidende Knattern eines Hubschraubers.
»Jetzt hab ich Holger so lange nicht gesehen und ausgerechnet bei seiner Verwandlung zum Drachen-Man treffe ich ihn wieder.« Brunssen schüttelte ungläubig den Kopf.
Linus lachte und merkte dabei, wie verkrampft er war. Das Lachen entspannte ihn.
»Drachen-Man«, wiederholte er, worauf Brunssen wiederum lachen musste.
»Als Pinkel-Man war er ja schon ein Held bei der Youtube-Gemeinde«, sagte Brunssen. »Über vierhunderttausend Aufrufe hat er mittlerweile.«
»Nach Demo-Man und Pinkel-Man jetzt der neue Coup des einzigartigen Aktionskünstlers Holger. Drachen-Man.«
Brunssen bekam sich nicht mehr ein vor Lachen. »Hoffentlich pinkelt er nicht im Fliegen.«
»Ich hoffe nur, er hat beim Drachenkauf nicht gespart«, scherzte Linus.
»Was soll er denn sparen?«, Brunssen zuckte mit den Schultern. »Wo nichts ist, kann man nicht sparen.«
Plötzlich schnürte sich Linus’ Hals zu. Er sah sich um, sein Lächeln starr ins Gesicht gebrannt. Wo nichts ist, kann man nicht sparen. Der Satz pendelte wie eine Abrissbirne in seinem Kopf umher, die immer heftiger gegen seine Stirn schlug.
Sein Blick heftete sich auf den Eingang des Becks Bistro. Sofort rannte er los. Die Ränder des Marktplatzes waren glücklicherweise weitgehend menschenleer.
Alle tummelten sich in der Mitte des Platzes. Linus kam schnell durch und gleich als er das Bistro betrat, entdeckte er, was er gesucht hatte.
Hinter der Theke stand auf einem glatten halbhohen Schrank ein kleiner Fernseher, den längst niemand mehr beachtete.
Alle Gäste und das gesamte Personal hatten den Laden verlassen, um sich alles live ansehen zu können. Dabei hatte die Fernsehübertragung spätestens in diesem Moment einen entscheidenden Vorteil.
Die Vogelperspektive.
Das Knattern des Propellers drang in das Bistro. Der Hubschrauber kreiste über dem Turm der Baumwollbörse und lieferte ein ziemlich scharfes Bild von Holger. Er bewegte sich konzentriert und geschäftig von einem Ende einer seltsamen Konstruktion zum anderen.
»Wie hat er das bloß alles da hoch bekommen?«, fragte Linus laut, ohne eine Antwort zu erwarten.
»In Einzelteilen.«
Brunssen lehnte am Tresen und tippte mit einem Finger auf eine polierte goldfarbene Zapfanlage. »Ich glaub, ich zapf mir ’n Pils.«
Er nahm sich ein kleines Aquavit-Glas und zapfte sich ein Miniaturbier. »Der Kerl hat das von langer Hand geplant«, sagte er. »Der ist da tagelang ein- und ausmarschiert und hat die Sachen aufs Dach geschleppt. Glaubst du,
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