Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
rohstoffhaftesten Fassung: Da regt sich die generalisierte Wut gegen eine Welt, die durch und durch verteilt und besetzt ist und in der niemand den Jungen einen eigenen Platz zeigen kann. Nichts macht so zornig wie die Vorstellung, überflüssig zu sein, während man mit der Vorstellung angetreten ist, eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn das Verlangen nach Bedeutung mit der Drohung der Überflüssigkeit zusammentrifft, entsteht die schärfste Konfliktlinie.
(Telefon klingelt. »Hallo? Ja, klar, ich freu mich, euch nach vierzig Jahren wieder mal zu sehen. Ist ja auch Zeit geworden. Also, dann, man sieht sich.«)
Strehle: Das hört sich nach Klassentreffen an.
Sloterdijk: Richtig, darum geht es.
Strehle: Können Sie sich als Philosoph Ihren ehemaligen Schulkameraden überhaupt noch begreiflich machen?
Sloterdijk: Ja, sicher. Im übrigen war der Jahrgang 66 vom Wittelsbacher Gymnasium in München eine wirklich gute Cuvée, die Leute haben ausnahmslos etwas aus sich gemacht. Wir stellten den maximalen Gegensatz zu den heutigen Jugendlichen dar, die von früh auf Karrieresorgen und Existenzangst empfinden – das war für uns das unbekannteste Gefühl überhaupt, wenn ich so allgemein reden darf. Viele von uns haben sich hoch und heilig versprochen, niemals entfremdete Arbeit zu leisten. Niemand wollte sich vom »System« seine Dissidenz abkaufen lassen. Heute beklagen sich viele Jugendliche darüber, daß man ihnen nicht von vornherein eine Lebenszeitstelle garantiert. Nichts hat mich seit vielen Jahren so befremdet wie der konfuse Aufstand der Jungen in Frankreich im März 2006 gegen das Gesetzesprojekt zu einem flexibleren Erstanstellungsvertrag, durch welchen den Arbeitgebern die Scheu vor der Beschäftigung neuer Mitarbeiter genommen werden sollte. Mit ihrer Revolte legten die Protestierer offen, wovon sie wirklich träumen: von der totalen Absicherung von Anfang an. Für einen alten 68er ist das obszön. Aber wir waren wahrscheinlich naiv.Irgendwie war man überzeugt, daß einem überhaupt nichts passieren kann. Dissidenz war damals der sicherste Weg zum Erfolg. Störenfriede, wenn sie es nur richtig machten, konnten darauf zählen, daß man in ihnen früher oder später die nützlichsten Mitglieder der Gesellschaft erkennen würde.
Strehle: Heute fürchten viele, zu Verlierern zu werden. Und wenn's geschieht, entwickeln sie eine rasende Wut wie die Amokläufer aus der weißen unteren Mittelschicht der USA , die in Schulen oder Einkaufszentren wild um sich schießen. Kann man diese Wut vergleichen mit jener des islamischen Attentäters, der seine Opfer oft ähnlich ungezielt auswählt?
Sloterdijk: Nein, ich bin sicher, das ist etwas völlig anderes. Die Amokschützen aus der weißen Mittelklasse sind in aller Regel Einzelkinder, die ihre Kränkung durch das Kollektiv destruktiv-individualistisch verarbeiten. Der amerikanische Attentäter ist sozialpsychologisch ganz anders gebaut als der muslimische Aktivist. Er geht nach einem anderen Drehbuch vor als der islamistische Kriegerattentäter, der nur funktioniert, wenn er und weil er von seinem Kollektiv getragen wird.
Strehle: Sehen Sie die Antwort auf diese Bedrohung, den »Krieg gegen den Terror«, als rationale Strategie oder seinerseits als kollektive Rache? Schließlich schreckt er nicht vor Folter, außergesetzlichen Tötungen, Geheimgefängnissen und Flächenbombardements zurück.
Sloterdijk: Ich bin davon überzeugt, daß unsere Antiterrorpolitik von Grund auf falsch ist. Sie gibt dem Feind keine Chance zur offenen Profilierung, sondern setzt ihn absolut ins Unrecht, von vornherein. Obendrein unterwirft sie ihn den Methoden der postheroischen Kriegführung, bei der man keine Schlachten mehr schlägt, sondern den Gegner aus der Position grenzenloser Überlegenheit eliminiert. Dieser Kampfstil liegt nahe für eine Kultur mit niedriger biologischer Reproduktivität, weil man heute auf unserer Seite keine Söhne zu verschwenden hat. Auf diese Weise jedoch nähert sich die Kriegführung der Insektenbekämpfung. Statt dessen müßte man allestun, um aus der entwürdigenden Asymmetrie auszubrechen – etwa indem man die Bildung islamischer Parteien in Europa fördert. In denen können würdevolle Formen von Dissidenz und Interessenvertretung entwickelt werden. Das wäre zugleich die beste und überzeugendste Antwort auf den Terror – man unterbricht die Spirale der reziproken Entwürdigung – Blickkontakt statt Verachtungswettbewerb.
Strehle: Welche
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