Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Umwandlung des Buches von einem autoritären in ein amiables Medium zum Ausdruck bringt. Von dieser Transformation lebt die bürgerliche Lesekultur, und diese Auflösung erst erzeugt die Lust am Buch.
Casimir: Der Autor Florian lllies behauptet eine grassierende Landsehnsucht unter Städtern: eine Zeitlang mal offline sein, entschleunigt, ideal für dicke Bücher. Kehrt in Deutschland gerade Leselust zurück?
Sloterdijk: Sie sprechen ja mit einem Menschen, der soeben eine Buchtrilogie mit 2400 Seiten fabriziert hat. So etwas tut man nicht in aller Unschuld, man hat sich wahrscheinlich etwas dabei gedacht. Unter anderem wollte ich suggerieren, daß dieses Projekt gleichbedeutend ist mit einem existentiellen Sabbatical. Wenn jemand mein »Sphären«-Projekt tatsächlich als Ganzes lesen wollte, wird er nicht umhinkommen, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Und es sieht so aus, als wären wirklich Menschen zu solch einem Lese-Sabbatical willens gewesen, sonst hätte man in Deutschland nicht 20 000 Exemplare von Sphären I verkauft. Es gibt schnelle Bücher, die wie Injektionen wirken. Aber es gibt auch Bücher, die so etwas sind wie ein langer Urlaub.
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[ 22 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Torsten Casimir erschien unter dem Titel »Ein Freund der Mühe: Der Leser« im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels (36/2006).
Torsten Casimir ist Chefredakteur des Börsenblatts .
Also sprach Sloterdijk
Im Gespräch mit Res Strehle [ 23 ]
Strehle: Peter Sloterdijk, Kompliment, Ihre Weltgeschichte von Zorn und Ressentiment ist ein großer Wurf.
Sloterdijk: Zunächst gab es bei mir die Intuition, daß sich unter diesen Motiven eine riesige Lagerstätte an Einsichten verbirgt. Sobald sich diese Intuition konsolidiert hatte, schrieb sich das Buch von allein. Der Zorn ist wie Nietzsches »Abgrund«: Je mehr man in ihn hinabschaut, desto fester blickt er zurück.
Strehle: Ihr Buch wendet den Blick ab vom freudschen Eros, der zwar viel erklärte, aber auch große blinde Flecken hinterließ, hin zum Thymos, der für die Griechen den Stolz als Quelle positiver Energien bedeutete.
Sloterdijk: Gewiß, wir leben gegenwärtig in einer Ära der Blickwechsel. Die Bühne dreht sich, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Psychologie, wo sich ein großer Paradigmenwechsel vollzieht, von der Psychoanalyse zur Neurobiologie. Meine Hinwendung zum thymotischen Pol der menschlichen Psyche drückt auf ihre Weise ein stark verändertes Epochengefühl aus. Viele Menschen spüren, daß sie Zeugen einer Weltkrise sind. In manchen Zeitläufen lebt man einfach geradeaus, wie auf einer Linie. Dann wieder gibt es Zeiten, in denen man das Gefühl hat, die Drehung des Weltrades selbst mitzuerleben. So geht es heute vielen Menschen, die spüren, wie sich die Szeneum sie herum verändert hat. Die Zeit des naiven Triumphs über den sozialistischen Rivalen ist überall in der liberalkapitalistischen Weltordnung vorüber.
Strehle: Sie reden davon, daß der Zorn gesammelt wird, interpretieren politische und religiöse Bewegungen als Sparkassen und Zornbanken, bei denen die Anleger ihre Kränkungen deponieren. Dabei entsteht auch ein veränderter Blick auf die politischen Parteien, die Sie als »Sammelstellen der Dissidenz« beschreiben.
Sloterdijk: Ja, ich bedaure es ein wenig, daß in den bisherigen Rezensionen meines Buchs von dessen logischem Zentrum kaum die Rede war. Im Grunde bietet Zorn und Zeit ja eine allgemeine Theorie der Sammlungen. Schon die alten Agrarimperien waren völlig vom Motiv der Schatzbildung beherrscht, denn das Geheimnis der Königsmacht in den frühen Theokratien oder Gottkönigsherrschaften lag in den Kornhäusern. Sammlungen von Waffen, Schmuck, Geld und Gold kommen hinzu. Kunstwerke in den Museen, das Wissen in den Akademien, Universitäten, Bibliotheken und das religiöse Heil im Schatzhaus Kirche zeigen, daß alle möglichen nichtmonetären Güter gesammelt werden können. Ich füge dieser Liste eine Dimension hinzu, der man bisher nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat: den Zorn. Manche Affekte sind nur scheinbar flüchtig, in Tat und Wahrheit aber sehr wohl sammelbar – was vor allem die religiösen Affekte beweisen. Fragen wir uns, was passiert, wenn Zorn gesammelt und konserviert wird, so ergibt sich ein neuer Blick auf die modernen politischen Parteien und Bewegungen. Man kommt deren Wesen und Funktion näher, wenn man sie als Affektsammelstellen beschreibt, die mit den Einlagen der kleinen Zornbesitzer
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