Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
wirtschaften.
Strehle: Sie schreiben, daß es Katholizismus und Kommunismus sehr gut verstanden hätten, den Zorn zu sammeln. Auch der Kapitalismus war da nicht schlecht. Schon der klassische Ökonom Joseph Schumpeter faßte die kapitalistische Dynamik als schöpferische Zerstörung.
Sloterdijk: Der Geist des Kapitalismus ist der Geist der Reinvestition. Demnach soll man seine Schätze nicht bloß still besitzen und sich an ihrer Anwesenheit erfreuen. Der wirkliche Kapitalist muß den Schatz loslassen können. Man könnte dies auch als die Modernisierung der Gier beschreiben: Der moderne Besitzende besitzt sein Eigentum erst richtig, wenn er es auf Verwertungsreise schickt, notfalls in Form von schwimmendem Kapital, das die Erde umrunden muß, um mit einem kräftigen Plus auf das Heimatkonto zurückzukehren – falls es nicht an einem Riff, einem Risiko, zerschellt. Der moderne Geist der Verwirklichung verlangt, daß jedes Potential sich aktualisieren soll, folglich brechen auch für den Zorn muntere Zeiten an. Wenn Gott tot ist, kommt er als Sammler, Absorbierer und Bewahrer des Zorns nicht mehr in Frage – aber wohin dann mit dem Protestpotential? Wie kann bei fehlender jenseitiger Vergeltung der Leidensausgleich noch geschehen, ohne den ein anspruchsvoller Begriff von Gerechtigkeit nicht gedacht werden kann? In dieser Lage läßt sich vorhersehen, daß im Buch der Ideengeschichte eine neue Seite aufgeschlagen wird. Auf sie schreibt man in blutigen Lettern: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.«
Strehle: Nun scheint ja der politische Islamismus gerade am Anfang eines neuen Kapitels zu stehen. Ist er daran, wie Sie sagen, in blutigen Lettern Weltgeschichte zu schreiben?
Sloterdijk: Er verbindet in sich die Merkmale der beiden vorangehenden Rachesammelstellen, der katholisch-metaphysischen und der kommunistisch-aktivistischen. Mit der katholischen hat er die Vorstellung der jenseitigen Strafen gemeinsam, denn er porträtiert Allah zu Recht als einen zornigen Herrn. Der Religionsphilosoph Jacob Taubes hat die Resonanz zwischen Führer und Gefolgschaft im Monotheismus ironisch glossiert: »Wie der Herr, so das Gscher« – womit er sagen wollte: Wenn man Jahwe kennt, braucht man sich über die Juden nicht zu wundern. Das gilt für Christen und Muslime unter veränderten Vorzeichen genauso. Auf der andern Seite hat derIslamismus auch viele Gemeinsamkeiten mit dem Kommunismus, weil hier wie dort politische Heilsprojekte zur Aufführung kommen. Wenn es ums Heil des Ganzen geht, ist Expansionismus angesagt. Wo dieser haltmachen wird, weiß man noch nicht. Wahrscheinlich wird er sich auf längere Sicht, wie auch der aktuelle Katholizismus, mit der Tatsache abfinden, daß die Welt für immer in Islam und Nicht-Islam geteilt bleibt.
Strehle: Der politische Islam will nicht expandieren?
Sloterdijk: Nun, die islamische Hemisphäre mußte im 20. Jahrhundert erst einmal ihr eigenes Größenwachstum verarbeiten. Wenn wir heute über den Islam sprechen, reden wir immer auch über eine noch nie dagewesene Bevölkerungsexplosion. Man diskutierte von den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts an über die neue demographisch bedingte Hungerproblematik in der Welt, wobei man gern übersah, daß es neben der Elendsfruchtbarkeit in der Dritten Welt auch eine offensive Kampffortpflanzung gab. Hinter der Verachtfachung der islamischen Populationen von 150 Millionen Menschen im Jahr 1900 auf 1,2 Milliarden im Jahr 2000 steht teilweise eine massive biopolitische Regie, die die aggressive Vermehrung der Nationalpopulation zum politischen Mittel erhoben hat. Wäre der Islam demographisch dort stehengeblieben, wo er im Jahr 1900 war, würden wir heute kaum von ihm reden. Inzwischen aber wurde die Populationsbombe gezündet: Die jungen Männer, die in den nächsten Jahrzehnten Ärger machen werden, sind alle schon geboren. Die älteren unter ihnen haben kürzlich ihre Visitenkarten abgegeben – bei den Unruhen anläßlich der Mohammed-Karikaturen. Da sah man zahllose wütende Zwanzigjährige auf den Straßen. In den kommenden Jahren werden Abermillionen Junge nachrücken.
Strehle: Ohne wirkliche Perspektive?
Sloterdijk: Sie tun, was jeder in ihrer Lage tun würde. Sie ergreifen die erstbeste Gelegenheit, auf irgendeiner Bühne eine Rolle zu spielen – gleich, ob das die Lokalbühne ist oder eine geträumte Weltbühne. Ihre Auftritte muß man ernst nehmen.Was man da sieht, ist Zorn in seiner reinsten und
Weitere Kostenlose Bücher