Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Rolle spielen die Medien in diesen Konflikten?
Sloterdijk: Man darf bei alledem nie vergessen, daß Terrorakte wie der vom 11. September oder die Explosionen im Madrider Atocha-Bahnhof einen tiefen Bezug zur westlichen Unterhaltungsindustrie haben. Sie agieren im Rahmen unserer eingespielten Horrorklischees – der aktuelle Terror ist die Übersetzung der weitverbreiteten Angstlustspiele von der Kinoleinwand auf den TV -Monitor. Der Realterror funktioniert nach den Spielregeln eines politisierten Snuff-Movies: echte Tote, totale Unterhaltung. Der Beweis hierfür: Der Terror profitiert von einem monströsen Belohnungssystem, das unter dem Grundsatz steht: »Bedrohe uns, und du wirst unser wichtigster Themengeber.« Sobald wieder etwas Entsprechendes passiert, geht diese Botschaft über alle Kanäle der westlichen Welt. Die Empfänger im Nahen und Mittleren Osten müßten taub und blind sein, sollten sie die Einladung nicht verstehen. Jeder Angriff von dieser Seite wird mit einer Orgie von Aufmerksamkeit belohnt.
Strehle: Sie sind sehr skeptisch gegenüber der Rolle der Medien und verlangen von jedem Journalisten, daß er sich entscheidet, ob er Agent der Aufklärung oder Mitspieler im Aufputschungssystem sein will.
Sloterdijk: Hier könnte ein Gedankenexperiment nützlich sein. Sobald eine Terrormeldung eintrifft, muß sich der Journalist über seine Komplizenschaft mit dem Terrorismus Klarheit verschaffen. Soll er den Schockimpuls einfach weitergeben, unter Umständen sogar weiter verstärken? Oder soll er sich dafür entscheiden, die Meldung zu dämpfen – zum Beispielmittels einer Quarantäne? Das war eine vorzügliche alteuropäische Maßnahme zur Pestbekämpfung. Die mediale Pest ist vielleicht noch gefährlicher als die bakterielle, weil sie das Motivationssystem einer ganzen Zivilisation durcheinanderbringen kann. Es geht doch nicht an, daß man schwere Verbrechen mit exzessiven Aufmerksamkeitsprämien belohnt, da ist die Aufforderung zur Wiederholung vorprogrammiert. Leider ist die Komplizenschaft zwischen Medienwelt und Terrorszene längst so tief eingespielt, daß man von einer echten Kollusion und einer effektiven Ko-Abhängigkeit sprechen muß – so bezeichnet man in der Drogentherapie die Verzahnung zwischen Sucht und Handel beziehungsweise die Allianzen unter den Süchtigen. Man muß es wohl irgendwann offen sagen: Die Dealer in diesem Spiel sind Sie, die Journalisten.
Strehle: Wie würden Sie handeln, wenn Sie Chefredakteur wären – den Deal verweigern?
Sloterdijk: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man schafft eine große Koalition der Abstinenten, die gemeinsam gegen den Zwang der Schreckensausbreitung streikt – oder man zeigt sich selber wegen Volksverhetzung an.
Strehle: Die Medien könnten ja auch eine Art Ventilfunktion ausüben.
Sloterdijk: Wären Affekte nicht auf ihre Art vernünftig, hätten wir sie gar nicht. Das leuchtet auch evolutionsbiologisch ein: Wenn die Natur uns mit diesen oder jenen Regungen ausstattet, müssen sie einen Fitneßvorteil mit sich bringen. Folglich gehören Stolz und Zorn genauso zur menschlichen Grundausstattung wie die Erotik. Die Evolution brächte kein zornfähiges Lebewesen hervor, wenn dieser Affekt nur ein widersinniger Ballast wäre. Das ist er nicht, sondern er ist ein wichtiges Streßderivat, und Streß ist die biologische Interpretation von akuter Gefahr – also überlebenswichtig. Auf real gegenwärtige Gefahr reagiert ein Lebewesen normalerweise mit Flucht oder Angriff. Für beides muß hohe Energie bereitgestellt werden, und genau dafür sorgt die Streßreaktion. Die frühen Heldengedichte beschreiben den großen Streß wie eine göttliche Gabe – oder wie eine Begeisterung, die gleichsam von außen in die Seele einströmt.
Strehle: Gefährlich wird's, wenn dieser Zorn gesammelt wird und zum Ressentiment versteinert?
Sloterdijk: Völlig richtig. Wenn das Geltungsbedürfnis von Menschen zurückgewiesen wird, wallt fürs erste der Zorn auf. Wird diese Aufwallung ihrerseits am Ausdruck gehindert, entsteht gespeicherter Zorn – den nennt man seit dem 19. Jahrhundert Ressentiment. Dostojewskij und Nietzsche haben mit ihren Untersuchungen über den erniedrigten, beleidigten und rachsüchtigen Menschen ein neues Kapitel in der Erkundung der menschlichen Seele aufgeschlagen. Sie waren thymotische Psychologen, wie auch ihr Nachfolger Alfred Adler. Dieser hat auf dem Umweg über Kojève und Lacan tiefe, aber verborgene Spuren in der
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