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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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einer Nahtoderfahrung.
    Scheu: Sie sahen sich schon früh mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert?
    Sloterdijk: Ich habe sozusagen als Toter angefangen. Eine komplizierte Geburt, eine Rhesus-Unverträglichkeit bei den Eltern, das reicht für einen Start als Beinahe-Toter. Unmittelbar nach der Geburt trat eine schwere Gelbsucht bei mir auf, was Beobachter zu der Aussage veranlaßte, daß blaue Augen bei gelber Haut besonders vorteilhaft zur Wirkung kommen. Ich empfand das freilich nicht als ästhetisches Privileg. Von der ersten Minute meines Lebens an war ich schon an sein Ende erinnert. Wenn der Beginn das Ende evoziert, so ergibt das einen Ausgangspunkt, der alles verfärbt.
    Scheu: Düster verfärbt?
    Sloterdijk: Ein düsterer Anfang ja, aber gefolgt von immer weiter reichenden Aufheiterungen. Auf diese Lichtungen ist es mir als Philosoph immer am meisten angekommen. Übrigens hat Emil Cioran in einer seiner dunkelsten Schriften – Vom Nachteil, geboren zu sein – mit einer ähnlichen Figur gearbeitet. Bei ihm heißt es: »Wir rennen nicht dem Tod entgegen«, sondern: »Wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt«.
    Scheu: Sie haben von der Möglichkeit eines Lebens gesprochen, in das der Tod keine Schatten wirft. Ist das nicht bloß die Phantasie eines Philosophen, dessen Geburt ein Todeskampf war?
    Sloterdijk: Man muß zwischen Tod und Sterben unterscheiden. Letztlich kann niemand den Tod kennen – wer ihn kennt, ist schon jenseits aller Erkenntnis. Wir beobachten bloß sein Protokoll, seine Randumstände, allenfalls den Vernichtungsvorgang aus der Innenperspektive bis an die kritische Grenze. Das Sterben hat eine klaustrophobe Dimension, die man schwerlich überschätzen kann. Die Romantiker haben das verdrängt, indem sie immer bloß die agoraphile Dimension des Sterbens betonten: alles wird groß, schön und offen, man steht auf einer blühenden Wiese im Mai, man hat soviel Platz wie nie zuvor und füllt ihn mit seiner Seele aus. In Wahrheit verengt sich im Todeskampf der Raum, man hat keinen Platz mehr, weder auf dieser Welt noch in dieser Zeit. Die Empfindung solcher Engpaß-Situationen ist das Unerträgliche schlechthin.
    Scheu: Ist ein Leben ohne Todesbezug wirklich ein lebenswertes Leben? Oder wäre es so etwas wie die unendliche Ausdehnung der Gedankenlosigkeit?
    Sloterdijk: Es wäre lebenswert – ich gebrauche den Konjunktiv, weil ich persönlich anders empfinde. Ich kann mir jedoch eine solche Lebensweise durchaus vorstellen. Die Wertschätzung des Lebens von seiner inneren Bezogenheit auf den Tod abhängig zu machen, ist ein alteuropäischer Tick. Es gibt doch auch Leben mit einer ganz eigenen Intensität und Wachheit, ohne Morbidität und Rückstau, auch ohne Jenseitsinteresse, sogar ohne das Bedürfnis, die eigenen verstorbenen Lieben im Jenseits wiederzutreffen. Setzen wir unsere Lebenskonzepte in Beziehung etwa zur hinduistischen Hermeneutik des Todes, wird uns unsere geschichtlich-kulturelle Bedingtheit schlagartig bewußt. Dort zielt das Begehren ja darauf, vom Leben erlöst und aus dem Rad der Wiedergeburten entlassen zu werden. In der abendländischen Kultur sind Wiederbegegnungsträume hingegen eine Hauptquelle thanatologischer Phantasien. Übrigens scheint mir, daß die Furcht vor negativen Begegnungen bei der Ausbildung von Jenseitsvorstellungen ebenso mächtig gewesen ist wie die positive Dimension …
    Scheu: … man will ewig leben, fürchtet sich aber zugleich davor, im Jenseits besonders perfide Leute anzutreffen …
    Sloterdijk: … dann lieber ewig irdisch leben. Das ergäbe eine thanatologische Begründung des Willens zum Leben. Die Furcht, verhaßten Mitmenschen im Jenseits zu begegnen, hat auch schon in manchem die Hoffnung geweckt, es gebe überhaupt kein Jenseits. Zuletzt bleibt die Hoffnung, der Himmel möge eine Art Labyrinth sein, in dem sich die Bewohner verlaufen. Da fällt mir ein bekannter Scherz ein. Petrus führt einen Neuankömmling im Himmel herum und zeigt ihm die verschiedenen Abteilungen, hier die Juden, dort die Moslems, da drüben die Hindus. Am Ende des Rundgangs deutet er auf eine grimmig dreinblickende Gruppe hinter einer Mauer und sagt: »Leise, das sind die Katholiken, die glauben, sie seien allein hier.«
    Scheu: Nicht nur in der abendländischen Philosophie, auch in unseren populären Phantasien – Stichwort Hollywood – können wir so etwas wie die Geburt des wahren Lebens aus dem Geiste des Todesbewußtseins beobachten. Auf welche kulturellen

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