Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Einflüsse führen Sie dies zurück?
Sloterdijk: In der griechischen Kultur bildete sich ein starkes heroisch-athletisches Pathos heraus, das sich auf alle Daseinsbereiche erstreckte. Leben bedeutet seither In-Form-Sein, und darum erhofft man sich nichts mehr als eine Gelegenheit, um in Höchstform zu sterben. Das ist die verborgene Botschaft der Ilias . Die beiden stärksten Kämpfer in der Ebene von Troja, Hektor und Achill, segnen das Zeitliche im richtigen Moment, beiden bleibt ein Dasein nach der Höchstform erspart.
Scheu: Im Christentum hingegen findet der Mensch den Triumph nicht im zeitlich perfekt abgestimmten Tod, sondern in Gott, dem Garanten für den Triumph über den Tod.
Sloterdijk: Unser modernes Todesbewußtsein ist in der Tat auch ein säkulares Relikt der katholischen memento-mori -Kultur. Interessant ist, wenn Sie mir einen kleinen philosophiegeschichtlichen Umweg über einen Autor gestatten, bei dem das griechische und das christliche Erbe zusammenkommen …
Scheu: … nur zu …
Sloterdijk: … interessant ist also, daß der einstige Ministrant Martin Heidegger zu jener Zeit, als er am meisten vom Tode sprach, am wenigsten katholisch war. Diese radikale Einkehr in sich selbst, der Tod nicht nur als eigene, sondern superlativisch gesteigert als »eigenste Möglichkeit«, als Möglichkeit der Unmöglichkeit, gewissermaßen die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts in der eigenen Seele, das hat zumal die Protestanten der 20er Jahre fasziniert. Sie glaubten daher, Heidegger sei ihr Mann – zu Unrecht. Heideggers Gedanke läuft auf etwas extrem Unchristliches hinaus: die heroische Aneignungdes eigenen Todes. Hingegen wurde der Tod im Christentum als Ablegen der Gewänder des Lebens, als Abtreten jeder Form von Eigenmacht zelebriert. Heidegger macht aus dem Sterben einen Grenzfall von Können, eine Aneignung der Enteignung. Das führt natürlich zu einer heroischen Grundhaltung, passend zur Großwetterlage des soldatischen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen.
Scheu: Mir scheint aber, daß die christliche Haltung gegenüber dem Tod zweideutiger ist, als Sie sie bisher darstellen. Auch im Christentum gab es eine Heroisierung des Todes.
Sloterdijk: Das ist wohl richtig. Während bei Matthäus, Markus und Lukas der Messias am Kreuz in einer Haltung höchster Selbstaufgabe stirbt und die erlittene Enteignung in aller Deutlichkeit hervortritt, steht bei Johannes seltsamerweise ein athletisches Schlußwort in der Serie der Worte des Erlösers am Kreuz: »Es ist vollbracht«. Dieser Ausspruch ist typisch für die Hellenisierung des Christentums. Der Mann am Kreuz wird zum Athleten, der in dem Moment, in dem er durchs Ziel geht, gleichsam die Arme hochreißt. (Sloterdijk holt das Novum Testamentum Graece et Latine und überprüft den Wortlaut.) »Tetelestai«, »consummatum est«: das klingt, als würde Jesus im Augenblick der Zielankunft die eigene Sterbeleistung resümieren.
Scheu: Das Sterben können, den Tod vermögen – zielt das, was Sie in Ihren Büchern die »Anthropotechniken« nennen, also die Techniken zur Selbstdomestikation des Menschen, letztlich auf die Überwindung des Todes ab? Wird dank Gentechnik der Tod bald zu einer Option: sterben muß nur noch, wer auch sterben will?
Sloterdijk: Es gibt zweifellos eine innere Teleologie der modernen Technik. Wollen wir sie verstehen, müssen wir über das gewöhnliche Verständnis der Technik als Organverlängerung hinausgehen; Organverlängerungen sind immer auch Traum- oder Phantasieverlängerungen. Nichts ist in den Resultaten der Technik, was nicht zuvor in der Metaphysik gewesen ist; undnichts ist in der Metaphysik, was nicht zuvor in der Magie gewesen ist. Es verläuft also eine Linie von der Magie zur Technik, und man muß sich fragen, was die magische und die biotechnische Bewußtseinsdisposition gemein haben.
Scheu: Und was wäre die Antwort?
Sloterdijk: Vermutlich die, daß wir in der aktuellsten Technik eine Verwirklichung des magischen Denkens beobachten können. Magisches Denken geht von der Annahme aus, daß es keinen natürlichen Tod gibt. Der Tod ist immer das Resultat einer okkulten Schweinerei …
Scheu: … einer Schweinerei?
Sloterdijk: Einer Bosheit, eines Hinterhalts, einer Manipulation. Der Tod geht auf externe Machenschaften zurück, die bösen Akteuren zuzurechnen sind. Man stürbe ja gar nicht, gäbe es da nicht jemanden, der einem Böses ansinnt. Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist die Naturalisierung
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