Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Daß Amt und Verstand konvergieren. Was übrigens wirklich nicht so dumm ist. Die meisten Menschen lachen darüber, aber ich glaube, das zeitgenössische Wort Kompetenz drückt genau diesen Glauben an den Zusammenhang von Amt und Verstand aus.
Steingart/Riecke: Die SPD hat beschlossen, die Steuern wieder zu erhöhen. Sie hat sich ja nur darüber gestritten, wieviel sie nehmen soll.
Sloterdijk: Sie bleiben im alten Schema eines vom Staat organisierten Nehmezwangs.
Steingart/Riecke: Aber was unterscheidet Ihre Gabe eigentlich von der Zwangssteuer? Sie zitieren ja selbst Benjamin Franklin, der sagt: Nur zwei Dinge im Leben sind gewiß, man stirbt, und man zahlt Steuern. Ist das nicht eine geübte Handlungsweise, die uns zur zweiten Natur geworden ist?
Sloterdijk: Absolut. Man soll die Tiefe der Gewohnheiten nicht unterschätzen. Wenn Franklin sagt, nur Tod und Steuern sind sicher, ordnet er diese beiden Phänomene in die gleiche Resignationsklasse ein. Das heißt, wir sind psychisch in bezug auf diese beiden Dinge praktisch nicht mehr lernfähig. Wer an Steuern rührt, hofft vergeblich wie in Dantes Hölle. Die Sterblichkeit und die Steuerpflicht werden in denselben Hirnarealen verarbeitet. Die sind von dem gleichen Gefühl einer unausweichlichen Fatalität umgeben.
Steingart/Riecke: Aber Ihre Plattfußtheologen wenden ein, daß sie schon eine Verbindlichkeit brauchen, weil ja auch die Ausgaben des Sozialstaates sehr verbindlich sind.
Sloterdijk: Es bleibt auch im alternativen System alles verbindlich. Aber die Qualität der Transaktion als solche wird anders erlebt. Die Menschen werden endlich in ihrer Geberqualität anerkannt – es wäre eine fast unsichtbare, aber ungeheuer weitreichende psychologische Revolution, wenn die Menschen, die wirklich die Gemeinwesenkasse füllen, in dieser Eigenschaft erstmals ernst genommen würden. Es kann doch nicht sein, daß ich mich in dem Moment, wo ich mich dem Allgemeinwesen am meisten zuwende, im Augenblick der Steuerzahlung, von seiten des Fiskus in die passivste und würdeloseste Rolle gedrängt sehe.
Steingart/Riecke: Der Gebende ist in unserem System eigentlich der Schuldige.
Sloterdijk: Das ist ein psychopolitischer Fehler, an dem die moderne Demokratie scheitern könnte. Die Etatisten aller Couleur nehmen das nicht ernst genug. Sie glauben, die Systeme laufen für immer von selber. Unsere ganze Welt ist auf einem psychopolitischen Grundfehler aufgebaut, weil sie die Freiwilligkeitsdimension in all diesen Transaktionen zwischen Staat und Bürger nicht hoch genug ansetzt.
Steingart/Riecke: Aber geht nicht der FDP -Liberalismus demselben Freund-Feind-Schema auf den Leim, indem er reziprok zur abkassierenden Hand die nachlassende Hand erfindet, also die Steuersenkung? Ist das dieselbe Idiotie, nur mit anderen Vorzeichen?
Sloterdijk: Ich weiß nicht, was diese Leute wirklich denken. Es sind sicher klientelpolitische Entscheidungen, die hinter solch einer Rhetorik stehen. Aber wie alle anderen versäumen es auch die Liberalen, das positive Gemeinwesenbewußtsein bei ihrer Klientel im richtigen Ton anzusprechen. Sie geben sich, als wären sie nur eine Steuervermeiderpartei. Aber man soll nicht vergessen, der Vermeidungsreflex ist das Resultat einer psychopolitischen Fehlentwicklung, die sehr weit zurückreicht. Jetzt wird sie fatal, weil sie sich überschneidet mit der jahrzehntelang verheerend falsch ausgeübten Fiskalpolitik der Staaten.
Steingart/Riecke: Die Ursache für die aktuelle Krise?
Sloterdijk: Vor der Ursachenanalyse kommt der Krisenbefund: Wir haben eine riesige Vertrauenskrise, die auch die Glaubwürdigkeitskrise des Kredits ist. Sie führt Schritt für Schritt zu der Unmöglichkeit, Staaten als Kreditnehmer noch ernst zu nehmen. Nicht mehr die Kanone ist die ultima ratio der Staaten, sondern der Bankrott.
Steingart/Riecke: Der Staat hat dafür zwei Dinge, die wir Privaten nicht dürfen: Er darf Kriege führen, das ist sein erstes Recht, und er darf Geld drucken. Letzteres tut er jetzt. Um dem Bankrott zu entgehen, um weitermachen zu können. In Frankfurt, während wir hier sitzen, wird Geld in den Kreislauf geschossen, das nicht erwirtschaftet worden ist, wie in Amerika auch. Wie beurteilen Sie das?
Sloterdijk: Das Geldmachen ist von Wirtschaftswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts als das kleinere Übel gelobt worden, sofern es hilft, die Rezession zu verhindern. Natürlich, sobald man die Rezession als das größtmögliche Übel definiert hat, dann
Weitere Kostenlose Bücher