Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
der Leine läßt. »Ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke. Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, daß über ihnen und durch sie kein ›ewiger Wille‹ – will. Diesen Übermut und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: ›bei allem ist eins unmöglich – Vernünftigkeit!‹ Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern – dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: daß sie lieber noch auf den Füßen des Zufalls – tanzen. « Diese Zeilen sind am Independence Day des modernen Denkens geschrieben – und wie es nicht anders sein kann, handeln sie von der Emanzipation des Zufälligen. Nietzsche setzt da und dort noch die metaphysische Blitz-und-Donner-Sprache ein, aber in der Sache ist schon die Umstellung auf das Kontingenzdenken vollzogen. Soviel bleibt heute vom guten alten Schicksal übrig: die Luhmannsche Doppelkontingenz. Ein System, in dem auch alles anders sein könnte, bezieht sich auf eine Umwelt, in der auch alles anders sein könnte. Aber daß es eben ist, wie es ist, darin steckt ein Hauch von Schicksalhaftigkeit.
Raulff: Und das wäre jetzt auch Ihre Antwort?
Sloterdijk: Prinzipiell ja, soweit die Emanzipation des Zufälligen gemeint ist. Doch ich liebe die Termini außer Dienst. Die antiquarischen Begriffe enthalten Reichtümer, die man beim Entrümpeln des Speichers wie zufällig wiederentdeckt. Ein Wort wie »Schicksal« ist in sich selber ein Archiv. Mir fällt der Satz Gottfried Benns ein: »Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur ihre Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.«
Raulff: Das finde ich wunderbar.
Sloterdijk: »Schicksal« ist ein solches Wort, aus dessen Flug die Jahrtausende fallen.
Raulff: Der Begriff ist in sich ein gigantischer Theorieroman, ein Roman vom Denken. Wir haben bisher nur ein paar Figuren aus der Kiste geholt, aber was dabei zutage kam, ist schon erstaunlich.
Sloterdijk: Eine Handvoll Beispiele für mythische und begriffliche Konzeptionen des Schicksalhaften in der okzidentalen Tradition haben wir angedeutet. Daneben ist nicht zu vergessen, daß es eine eigensinnige orientalische Theoriewelt gibt, namentlich die indische, die seit zweieinhalbtausend Jahren einen Begriff wie Karma besitzt. In dem verbirgt sich viel von dem, was Denker des Ostens über moralische Kausalitäten, langfristige Schuldzusammenhänge, Inkarnationszufälle, existentielle Ungleichheiten und ihre künftigen Kompensationen in Erfahrung gebracht oder ersonnen haben. Indien gehört zu einer Weltsphäre, die aufs Ganze gesehen viel weniger technische und politische Freiheitsgrade kannte als die westliche. Sobald man sich auf seine Kultur einläßt, spürt man etwas von der Notwendigkeit, die dort herrscht, mit viel mehr Seele, viel mehr Göttern, viel mehr Askese auf die Umstände zu reagieren.
Raulff: Heißt das nicht auch mit viel mehr Poesie?
Sloterdijk: Gewiß, die Menschen der indischen Hemisphäre sind seit jeher zu einer starken Innenweltproduktion verurteilt, ganz wie die Menschen der verflossenen Zeit, als Europa noch das Abendland hieß. Der Weg ins Äußere warin diesem Weltzustand weitgehend blockiert, die externen Tatsachen wenig erheiternd. Nur enorme Leistungen an Übung und Umdichtung machen die Welt und das Leben erträglich. Um analogisch zu erklären, was ich meine, erinnere ich gern an die alteuropäische Überlieferung der Sternbilder, von denen die modernen Menschen fast nichts mehr wissen – sie kennen allenfalls noch den großen Wagen oder den Gürtel des Orion. In der Antike hatte jeder halbwegs Gebildete die 48 klassischen Sternbilder in petto , an denen jedesmal eine Unzahl von Geschichten hingen. Der von Sternbildern illustrierte Himmel war ein Zeugnis dafür, wie frühere Menschen das Äußere mit Überschüssen aus ihren Innenwelten bekleideten. In diesem Weltzustand kommt dem Schicksalsbegriff eine enorme Bedeutung zu, weil er eine Art von Grammatik für das Umdichten von Glück und Unglück vorgibt. Ein einzelner Stern ist fürs erste nicht mehr als ein sinnloser Lichtpunkt, als Teil eines Sternbilds wird er zu einer Figur in einer jenseitigen Erscheinung, einer Konstellation, einer Chiffre. Und so fügt man auch sinnlos wirkende
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