Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Zufälle in ein ad hoc gesponnenes Sinngewebe ein. Der Schicksalsbegriff deutet auf die Seelenarbeit, die notwendig wird, wenn man den Zufall in etwas Sinnvolles und Lebbares umdichten muß. Nur gut versicherte Menschen wie wir Modernen haben den Zufall emanzipieren können. Nur in der technischen Kultur konnte man mit so leichtem Seelengepäck reisen, wie wir es uns angewöhnt haben. Die meisten Generationen vor uns besaßen solche Entlastungen nicht. Sie mußten versuchen, die Welt wie einen großen Teppich zu begreifen, dessen Muster man aufgrund seiner Größe nicht erkennt, von dem man aber unbedingt glauben will, daß es existiert. In seiner humansten Gestalt war der Schicksalsgedanke der Kernsatz des Glaubens, wir seien selber Fäden und Figuren in einer göttlichen Teppichweberei.
II . Marbacher Gespräch
Raulff: Herr Sloterdijk, wir sollten heute, um unsere erste Zusammenkunft vor einigen Monaten fortzuführen und zu ergänzen, über einige Motive reden, die damals nicht zur Sprache kamen. Ich denke da vor allem über die frühneuzeitliche Schicksals-Emblematik, speziell die Fortuna mit all ihren Attributen, von denen jedes für sich genommen äußerst interessant ist …
Sloterdijk: … und von denen jedes einzelne eine größere Ausstellung verdienen würde. Die klassischen Attribute der Fortuna sind das Steuerruder, das Segel, das Rad mit seinen fallenden und steigenden Positionen, die Kosmoskugel, auf der die Göttin balanciert, der Globus und seine Miniaturisierung zum Spielball und zur Lottokugel. Leider verschwendet heute kein Mensch noch einen Gedanken an die symbolischen Quellen der zahllosen Bälle, mit denen in der aktuellen Massenkultur gespielt wird.
Raulff: Mit Ausnahme von Horst Bredekamp, der sich für die Ballspiele der Medici interessierte …
Sloterdijk: Ja, als einer der wenigen zeitgenössischen Bildwissenschaftler hat er diese Dinge ins Auge gefaßt. Aber die Ball-, Kugel- und Sphären-Thematik im ganzen führt ein stiefmütterliches Dasein am Rande der offiziellen Aufmerksamkeitssysteme.
Raulff: Woran liegt es? Vielleicht daran, daß man das Spiel in seiner kulturschöpferischen Funktion, trotz Huizinga, nicht ernst genommen hat? Oder daran, daß das Spiel immer mit einer gewissen Vagheit verbunden gewesen ist? Mit einer konstitutiven Wackeligkeit?
Sloterdijk: Ich denke, das trifft es. Das Vage und Verwackelte, das sprach die längste Zeit über die Theoretiker nicht an, es war ihnen zuwider. Noch bei Paul Valéry beobachtet man diesen mürrischen klassisch-rationalistischen Charaktertypus, der gekennzeichnet war durch eine viszerale Abneigunggegen alles Ungefähre. Andererseits kann man von der Rationalitätskultur des 20. Jahrhunderts nur etwas verstehen, wenn man in ihr eine ständige Ausweitung der Berechenbarkeitszone sieht. Sie ist ein Unternehmen, die labilen Größen, die Vagheiten, die Schwärme, die Turbulenzen für das exakte Denken zu erschließen. Diese Instabilitäten waren alteuropäisch unter mythologischen Formen behandelt worden, man hat Ungewißheiten auf Götterlaunen oder Vorherbestimmungen abgebildet. Doch vom 17. Jahrhundert an tauchen probabilistische Rechnungen auf, seit dem 20. gibt es Chaostheorie, Fraktale, Algorithmen für alles Krumme, Gedrehte, Ausgefranste. Natürlich reden wir längst nicht mehr von der Fortuna, sondern vom Risiko. Das setzt den Sprung in eine andere diskursive Ordnung voraus. Für Petrarca war es noch angemessen und richtig, das ganze Feld existentieller Instabilitäten mit einer Sammlung exemplarischer Geschichten oder Novellen über gutes und schlechtes Glück abzudecken. Von seinem riesenhaften Buch De remediis utriusque fortunae – Heilmittel gegen Glück und Unglück – haben Forscher gesagt, es sei das am häufigsten kopierte säkulare Schriftwerk der Vor-Gutenberg-Ära gewesen. Das zeigt im übrigen: Man erkennt die beginnende Moderne am Aufstieg der Ratgeber. Petrarca erwies sich mit diesem Werk als der erste Großmeister literarischer Lebensberatung. Er stand auf der Höhe seiner Zeit, weil er in dieser Morgenröte der Moderne begriffen hatte, daß er sich vor allem in der Rolle des Fortuna-Therapeuten interessant machen konnte. Sein Ansatz war noch ganz stoisch-christlich. Er wandte sich an seine Leser mit der Botschaft: Wenn ihr schon in dieser Welt leben müßt, in der die launische Fortuna ihre Bälle wirft, diese verwirrende Göttin, die euch einmal verwöhnt und ein andermal fallenläßt, dann sollt ihr von
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