Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Wissenschaft erstarrte Aufklärung zu verstehen?
Sloterdijk: Es ist eher ein Umstimmungsversuch – auch in dem Sinne, daß dem Instrument, auf dem wir das Lied von der schlechten Welt gespielt haben, andere Saiten aufgezogen werden. Ich bin aus dem Umkreis der Frankfurter Schule hervorgegangen, in der wir eine besondere Art von virtuosem Klagen gelernt haben. Man durfte sich in einem Argument irren, abernicht in der Tonart. Wenn man den Klagekonsens verletzte, war man ein größerer Verräter, als wenn man in der Beurteilung eines philosophischen Sachverhaltes von der Meinung der Meister abwich. Konkret: Man war ein Verräter, wenn man über Jazz sich eine andere Meinung erlaubte als jene, die Adorno hatte. Mein Buch hat da tatsächlich dann den großen Bruch herbeigeführt.
Schmidt: Wie denn?
Sloterdijk: Es hat einen Tonartenwechsel nach zwei Seiten hin gebracht. Erstens war es auf einen heiteren und verspielteren Ton gestimmt, und es hat zweitens die Allianz zwischen dem Kritizismus und dem Akademismus aufgebrochen. Da ist eine Öffnung ins Allgemeine erfolgt, was sich in einem enormen Rezensions- und Verkaufserfolg des Buches ausgedrückt hat. Wir sind jetzt bei der vierzehnten Auflage, und es sind 120 000 Exemplare über den Tisch gegangen.
Schmidt: Glauben Sie damit das Sterben der Kritischen Theorie eingeleitet zu haben, deren Tod Sie jetzt in der aktuellen Debatte feststellen?
Sloterdijk: Das war ohne Zweifel der Fall, auch wenn wir dies im Jahr 1983 noch nicht klar genug erkennen konnten. Damals sah es einen Augenblick lang so aus, als wollte Habermas meinen Ansatz als erste Ankündigung einer selbständigen dritten Generation der Schule gelten lassen – und ich selbst erkannte noch keinen Grund, diesen Irrtum zu korrigieren. Im Gegenteil, ich hatte etwas getan, was wie die Erfüllung eines Programms aussah, das der junge Habermas für sich aufgestellt und dann vergessen oder verdrängt hatte: Mit Heidegger gegen Heidegger denken war das Motto eines Aufsatzes von ihm aus dem Jahr 1953. Was hatte ich anderes getan als eben das? Doch mit der Zeit wurde klar, daß nicht alle Wege nach Frankfurt führen, mehr noch, es wurde deutlich, daß der Frankfurter Weg selbst nicht mehr weiterführte. Schließlich bekam ich Gelegenheit, im Konflikt zu erproben, was Habermas unter »kommunikativem Handeln« versteht, und was er meint, wenn ervon der »idealen Sprechsituation« und der »Einbeziehung des anderen« redet. Ich habe die Kritische Theorie tot erklärt, als von der Kritik nur noch Hypokrisie übrig war. Die Obduktion wird zeigen, daß sie seit langem kränker war, als man dachte.
Schmidt: Hat das Verdikt von Habermas vielleicht auch etwas damit zu tun, daß Sie das Frankfurter Krankenlager verlassen haben? Sie kommen aus der linken 68er-Bewegung, dem Lager der Frankfurter Schule. In welchem Spektrum orten Sie sich heute?
Sloterdijk: Ich gäbe viel dafür, wenn ich eine gute Antwort auf diese Frage kennen würde. Vor allem, wenn ich eine gute Topographie hätte oder eine politische Landkarte, auf der ich einzeichnen könnte, wo ich jetzt stehe. Ich verstehe mich eigentlich nach wie vor aus der kritischen Bewegung von 1968 heraus. Aber ich glaube ernsthaft, daß ich die Linke heute besser verstehe als sie sich selbst. Wenn man damit weiterhin ein Linker sein könnte, würde ich mich am liebsten weiterhin so einordnen. Nur wäre das nicht die genaue Wahrheit.
Schmidt: Trifft Sie der Vorwurf, weit nach rechts abgedriftet zu sein?
Sloterdijk: Nein. Ich glaube, daß es Reifungsprozesse gibt, die sich nicht in diesem konventionellen Schema abbilden lassen. Aufgrund gemachter Erfahrungen habe ich immer weniger übrig für diese ewige ungezogene, hypermoralische Linke, aus der ich selber hervorgegangen bin. Das Stadium der Reife, und das ist ein Ausdruck, der mir heute mehr bedeutet als eine politische Standortbestimmung, läßt das nicht mehr zu. Wie ich überhaupt der Meinung bin, daß man heute zu Unrecht die Wertedebatte auf Kosten einer Debatte über Reife und Reifungsprozesse führt. Wer Werte sagt, müßte immer einen Reifungsvorbehalt machen oder offen zugeben: Ich bekenne mich zu Werten, die ich nicht verwirkliche. Wenn man die Debatte so führte, wäre ich mit von der Partie. Aber ich kann diesen ganzen Trend zum Denken in Normen und Werten, der uns im Augenblick heimsucht und der zum großen Teil von übergeschnappten Juristen ausgeht und auch von Philosophen, die glauben, daß die Juristen die
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