Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Argumentation. Was in der »Süddeutschen Zeitung« und im »Spiegel« mit purer Hetze begonnen hatte, ist über Nacht eine authentische Debatte geworden. Nach langen Jahren, in denen die deutsche Öffentlichkeit durch Gesinnungsrhetorik und ihr notwendiges Gegenstück, die Flucht in die Blödelei, paralysiert schien, ist mit einem Mal bewiesen, daß die Menschen immer noch, und vielleicht mehr denn je, intellektuell ansprechbar sind. Sie haben die organisierte Heuchelei und die bleiernen Reden satt und wollen wieder ihre Intelligenz frei gebrauchen, ohne ständige Einschüchterung durch Diskurspolizisten.
Schmidt: Ihre Kritiker, vor allem die Publizistik-Jünger von Jürgen Habermas unterstellten Ihnen in dieser Debatte »faschistische Rhetorik« und »Selektionsphantasien«, weil Sie sich in Ihrem Menschenpark-Vortrag angeblich für eine stilistische Neuzüchtung der Gattung Mensch ausgesprochen hätten.
Sloterdijk: Das Wort »angeblich« ist zu unterstreichen. Liest man meinen Text mit dem Finger auf der Zeile und daneben die sogenannten Deutungen gewisser Interpreten, so kann man nur von Halluzinationen und von einem gezielten Rufmordversuch sprechen. Jeder Autor träumt davon, daß die Leute seine Schriften wie bewußtseinserweiternde Drogen lesen, aber in diesem Fall sind die Nebenwirkungen außer Kontrolle geraten. Einige Interessenten haben ihre persönlichen NS -Delirien in den Text projiziert und wollten dafür landesüblich als gute Bürger gelobt werden. Ich habe in meinem »Zeit«-Brief an Jürgen Habermas zum Hintergrund dieser organisierten Falsch-Lektüre das Nötige gesagt, Journalisten sind meinen Hinweisen nachgegangen und haben sie bestätigt gefunden, schon bevor Habermas selbst in seinem beschwichtigenden Brief an die »Zeit« indirekt zugab, daß ich zu Recht auf ihn gedeutet hatte. Mittlerweile ist ja der Habermas belastende Brief mit der Schreibanweisung an seine folgsamen Schüler in den Medien aufgetaucht.
Schmidt: Nicht jeder erträgt es, wenn der Universaldenker mit einem gewaltigen Hieb ein paar Schneisen in die epochale Unübersichtlichkeit legt und dabei auch noch großen Erfolg hat.
Sloterdijk: Unfreundlicher beschrieben, könnte man sagen, ich habe eine megalomanische Komponente, die zu therapieren noch niemandem gelungen ist und die es mir erlaubt, mich über viele Hemmungen hinwegzusetzen. Ich kann nicht auf Dauer meine Arbeit machen, wenn ich mich für meine besten Möglichkeiten ständig entschuldigen soll.
Schmidt: Liegt Ihr Erfolg nicht in erster Linie daran, daß die Philosophie, so wie Sie sie betreiben und beschreiben, eine Art Lebenshilfe ist?
Sloterdijk: Ich würde diese Frage bejahen, wenn ich sicher wäre, daß wir uns über den ironischen Gehalt dieser Kennzeichnungen verständigt haben.
Schmidt: Das können wir tun.
Sloterdijk: Mein Blickpunkt ist nicht das Erbauliche, sondern das, was man im Sinne der Existenzphilosophie die Grundprobleme nennt: die Probleme also, die man sich nicht künstlich machen muß, um sie zu haben, wie es zum Beispiel in allen Forschungsdisziplinen der Fall ist. Forscher sind von der Definition her Leute, die Probleme lösen, die es nur gibt, weil sie von ihnen gemacht werden – mit Ausnahme der Mediziner, mit denen ich mich übrigens in der letzten Zeit immer häufiger auseinandersetze. Eines meiner nächsten Bücher wird eine Sammlung von medizin-philosophischen Aufsätzen sein, wo ich also das Verhältnis von Katharsis, von Heilung, von Suggestion und von Immunität diskutiere. Der Begriff »Immunität« ist im Laufe der letzten Jahre ganz ins Zentrum meiner Arbeit gerückt. Von dieser Seite her, also von einer Immun-Anthropologie her habe ich tatsächlich einen Denkstil entwickelt, der mit dem Primat der nicht-erbaulichen Philosophie als Kritik nicht mehr konform ist.
Schmidt: Ein Zeittherapeut, ein Zeitdiagnostiker waren Sie schon immer. Gleich Ihr erstes großes Werk Die Kritik der zynischen Vernunft wurde als »Summe unserer Tage« begrüßt.
Sloterdijk: Der Begriff »Zeitdiagnostik« führt in die Nähe eines kultur-medizinischen Ansatzes, denn wo diagnostiziert wird, da soll ja auch die Therapie nicht weit sein. Doch diese fällt schwer, weil Zeit und Leben aufs Ganze gesehen, unheilbare Verhältnisse darstellen oder zumindest eine Gesamtlage bilden, in der das Unheilbare gegenüber dem Heilbaren einen Vorsprung hat.
Schmidt: Ist die Kritik der zynischen Vernunft eigentlich als heiterer Gegenschlag gegen die in trauriger
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