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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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am Anfang nicht so, da habe ich das Philosophieren als Ausdruckshandlung verstanden und gewissermaßen nur meine Überschüsse oder meinen Übermut veröffentlicht.
    Schmidt: Und zum anderen?
    Sloterdijk: In meinen jüngeren Jahren war ich nicht gerade ein Einzelgänger, aber auf jeden Fall kein Mensch, der seine Partnerschaften als familiengründend empfand. Das hat sich grundlegend geändert. Parallel zu dem Bekenntnis zur Philosophie als Beruf lief so etwas wie ein Bekenntnis zur familiären Lebensform. Das kann man auch in meinen Büchern der 90er Jahre nachlesen. Da kommt plötzlich so ein Kinderbewußtsein in den Texten zum Vorschein, und es sind väterliche Töne zu hören – es hat sich mir einfach eine Lektion aufgenötigt, der ich mich bis dahin verweigert hatte. Die Erfahrung, daß Kinder die Realität definieren und daß man von dort her die Möglichkeit der Wirklichkeit erleben muß, hing mit der Tatsache zusammen, daß ich Vater geworden war.
    Schmidt: In den Sphären haben sie sich sogar als eine Art Geburtshelfer geoutet. Die Geburt oder anders formuliert: Das Zur-Welt-Kommen scheint ins Zentrum Ihres Denkens gerückt zu sein.
    Sloterdijk: Ich habe den Helden im Zauberbaum bereits seine eigene Geburt träumen lassen. Das Buch ist 1985 veröffentlicht worden und durchaus richtig als mein Programm verstanden worden. An den Grundzügen hat sich nichts geändert. Ich habe nur besser verstanden, daß die Geburt als ein Ereignistyp und Zur-Welt-Kommen als anderer Ereignistyp nicht dasselbe sind, weil geboren werden für Wesen unseres Schlages eben nicht ausreicht, um zur Welt zu kommen. Daß eine Geburt überhaupt ein Zur-Welt-Kommen ist, darin steckt das ganze Mysterium und darum dreht sich meine Arbeit.
    Schmidt: Wird nicht auch ein hochmotivierter Denk- und Schreibathlet durch eine solche Arbeit wie der am dreibändigen Werk der Sphären psychisch und physisch so absorbiert, daß er zu nichts anderem mehr Zeit hat?
    Sloterdijk: Ich sage zwar bei Gelegenheit, daß ich eigentlich ein mißlungener Bohemien bin. Aber durch die Arbeit entsteht zusätzliche Kraft. Wenn man so schreibt, daß der Text während des Schreibens sein Gelingen ankündigt, dann kommt mehr Kraft zurück, als man für die Produktion aufgewendet hat. Das Gelingen der Arbeit setzt jedoch voraus, daß man sich nicht quält. Und das spüren die Leser, daß die Texte ungequält entstehen, daß sie fließend sind, von einem durchgehenden Glücksgefühl getragen. Auch wenn das eine oder andere falsch wäre, wäre es nicht schade, daß es dasteht.
    Schmidt: Apropos Glücksgefühl: Das stellt sich bei Ihnen, wie man hört, auch ein beim Genuß eines erlesenen Bordeaux-Weines. Sie kennen sich da wohl sehr gut aus?
    Sloterdijk: Alles Autodidaktik! So, wie ich im Bereich der Philosophie nie einen echten Lehrer hatte, zumindest nicht im kompletten Sinne des Wortes, und mir die Dinge gewissermaßen autodidaktisch aneignete, so ist es auch mit dem Bordeaux. Nachdem wir nun aber soweit gekommen sind, vom Bordeaux etwas zu verstehen, können wir ihn nicht mehr bezahlen. Jetzt müssen wir mit Australiern und Italienern ein Notprogramm durchführen. Das ist wirklich schlimm. Der einzige Gesichtspunkt, unter dem ich die Globalisierung scharf verurteile, ist der, daß japanische und amerikanische Ignoranten den wenigen Europäern, die von ihrem eigenen Wein etwas verstehen, das Leben sauer machen, weil sie zu überhöhten Preisen alles wegkaufen, was uns so lieb geworden ist.
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    [ 6 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Felix Schmidt erschien unter dem Titel: »Meine Arbeit dreht sich um das Zur-Welt-Kommen« in der Welt (6. Oktober 1999, S. 35).
Felix Schmidt war Kulturchef des Spiegels , Chefredakteur von Welt am Sonntag , Stern und Hörzu , er wirkte als Fernsehdirektor beim Südwestfunk Baden-Baden und war zuletzt Geschäftsführer der Fernsehproduktionsgesellschaften AVE .

Wir fahren immer auf dem Maternity Drive

Im Gespräch mit Mateo Kries [ 7 ]
    KRIES: Ist Mobilität eine menschliche Grundkonstante?
    SLOTERDIJK: Aus philosophischer Sicht ist die charakteristische Beweglichkeit des Menschen als Zur-Welt-Kommen zu denken. Die Formel vom Zur-Welt-Kommen ist, daß bei der Geburt von Menschenwesen mehr geschieht als nur der biologische Austritt aus der Mutter. Der Sinn von Geburten im allgemeinen besteht wohl darin, daß Wesen, die von innen kommen, einen Ortswechsel vollziehen von einem absolut intimen Schutzraum in einen äußeren,

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