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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gibt.
    Methfessel/Ramthun: Könnte dieser Findungsprozeß auch zu einer Renaissance von Moral führen?
    Sloterdijk: Nicht zu einer Renaissance von Moral im Sinne des großen mystischen Singulars – so als würden die Menschen jetzt wieder gut, weil die Zeitläufe schlecht sind.
    Methfessel/Ramthun: Der Kanzler hat einen nationalen Ethikrat eingerichtet. Ein richtiger Weg, oder fällt dies auch in die Kategorie des Hyperkonsenses?
    Sloterdijk: Der Ethikrat wird vermutlich schon deshalb nicht funktionieren, weil das putschistische Procedere dieser Einrichtung am Parlament vorbei zu durchsichtig ist. Das Gremium hat den Charakter grober Instrumentalisierung. Man hat den Eindruck, daß die Regierung Expertenstimmen einkauft. Wer teilnimmt, muß sich fragen lassen, ob er seine eigene Käuflichkeit genügend geprüft hat.
    Methfessel/Ramthun: Immerhin hält der Ethikrat Bürger und Politiker nicht davon ab, trefflich weiter über die Gentechnik zu streiten …
    Sloterdijk: … was ich sehr begrüße. Eine Weile hat man schon glauben dürfen, daß wir das Ende der diskutierenden Gesellschaft erlebt hätten. Doch jetzt, da wir an der Schwelle einer wichtigen Technikeinführung stehen, erleben wir wieder das Schauspiel einer aus der Tiefe heraus diskutierenden Gesellschaft.
    Methfessel/Ramthun: Der Disput um die Gentechnik als Jungbrunnen?
    Sloterdijk: Die moderne Gesellschaft wird an ihre Ursprünge zurückgeführt. Es ist eine Geburt der Gesellschaft aus dem Kampf der Bewußtseine oder aus dem Kampf echter Parteien.
    Methfessel/Ramthun: Haben wir keine richtigen Parteien mehr?
    Sloterdijk: Echte Parteien gibt es nur dort, wo reale Interessengegensätze bestehen. Im Moment erleben wir wieder relativ leidenschaftliche Parteibildungen, und zwar nicht längs der parlamentarischen Gruppierungen. Wir beobachten die Formierung von moralischen Parteien, eine informelle Parteienlandschaft mit einer technophobischen und einer technophilen Partei. Derzeit ist die Technophobiepartei an der Macht, obwohl der Kanzler der technophilen Tendenz angehört.
    Methfessel/Ramthun: Schröder versucht ja für die SPD den Spagat mit dem Slogan »Sicherheit im Wandel«.
    Sloterdijk: Sehr geschickt, denn es geht darum, die atmosphärischen Pole so auszubalancieren, daß die Gesellschaft nicht in einen manifesten semantischen Bürgerkrieg über die unverträglichen Grundtendenzen abstürzt.
    Methfessel/Ramthun: Dieser Bürgerkrieg scheint, was die Gentechnik betrifft, eher die CDU erfaßt zu haben.
    Sloterdijk: Es gibt auch einen schweren Konflikt bei den Grünen, obwohl die große Mehrheit der Grünen natürlich technophob ist. Aber im Laufe der Realo-Konversion, die seit 10, 15 Jahren in der Partei läuft, haben sich einige Grüne auch zu einer gemäßigten Technophilie bekehrt.
    Methfessel/Ramthun: Dieser Prozeß findet ebenso bei der SPD statt.
    Sloterdijk: Ja, weil sich die SPD als alte Umverteilungspartei auf ihre schicksalhafte Allianz – nicht ideologisch, sondern systemisch – mit einem prosperierenden Markt besinnt und darin dem Kanzler pragmatisch folgen dürfte.
    Methfessel/Ramthun: Hat die informelle moralische Parteienbildung im Zuge der Gendebatte Auswirkungen auf die traditionelle Parteienlandschaft?
    Sloterdijk: Der Befund zeigt zunächst, daß wir vier sozialdemokratische Parteien und eine wirtschaftsliberale im Parlament haben. In der PDS gibt es zudem einen linksfaschistischen Widerstandsblock, der unberechenbar ist, weil er ein antikapitalistisches Ressentiment organisiert, von dem man nicht sagen kann, ob es links oder rechts steht. Alle Politik, die aus dem Ressentiment kommt, erfüllt im Grunde genommen das Merkmal dessen, was wir fälschlich als Rechtsradikalismus bezeichnen. In Wahrheit ist es ein Affektradikalismus oder ein Verweigerungsradikalismus, der genauso links wie rechts sein kann. Aber insgesamt ist die PDS jetzt auch auf dem Kurs der Sozialdemokratisierung.
    Methfessel/Ramthun: Wie geht es weiter? Schafft die Gentechnikdebatte womöglich ein Klima, das zu einer sozialliberalen Koalition führt?
    Sloterdijk: Mich würde das nicht überraschen. Die Sozialdemokratie ist ja seit ihrer offenen Konversion zur Ideologie des dritten Weges blairistisch. Und Blairismus ist das Resultat aus der Hochzeit zwischen Labour und Thatcherismus. Das wiederum bedeutet den längst fälligen Nachvollzug der für das 20. Jahrhundert gültigen Arbeitsformel von der sozialstaatlich temperierten Marktwirtschaft. Mit dieser Wende hat die

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