Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
man solche Thesen überhaupt zu artikulieren imstande ist. Dies kann im übrigen auch aus einem anderen Grund nicht anders sein: Denn wir sind es aufgrund alteuropäischer Prägungen gewöhnt, den Menschen von seiner Misere her zu beschreiben – wir halten ihn üblicherweise für ein Tier, dem etwas fehlt. Das Wort von der conditio humana zielt ja bereits unmißverständlich auf den Menschen als gebrochene Figur, man könnte sie den homo patiens nennen. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit an den Basistext des europäischen Miserabilismus, der nicht umsonst den Titel trägt: de humanae conditionis miseria , verfaßt von Lotario de Segni, dem späteren Papst Innozenz III ., ungefähr um 1200 entstanden. Ein ganz wunderlicher Text, sehr aufschlußreich, eine wahre Litanei des Elends, basierend auf dem Entschluß, das Menschsein durchwegs von der negativen Seite her zu bilanzieren und dem Lebensüberdruß Argumente an die Hand zu geben – vermutlich um die Zuflucht zu Gott als einzige Alternative zum gewöhnlichen Dasein attraktiv zu machen.
Macho: Die Beschwörung der Miserabilität des menschlichen Daseins ist natürlich auch ein wesentliches Element der Rede von Tod und Sterblichkeit, die für die älteren Kulturen – bis zum Humanismus – deshalb so wichtig war, weil man im »memento mori« die spezifische Stellung des Menschen identifizieren zu können glaubte. Bei aller Idealisierung der Vollkommenheit und Schönheit des Menschen, oft unter Berufung auf die griechische Kunst, durfte seine Flüchtigkeit, die Vergänglichkeit seiner Erscheinung, nie vergessen werden. Die grausamste Rede über die elende Kondition des Menschen, die ich kenne – abgesehen vom Text des Papstes Innozenz, den Du eben erwähnt hast –, findet sich in den Dialogen zwischen dem Tod und dem böhmischen Ackermann, wo der Mensch beschrieben wird als »Kotfaß«, »Wurmfraß«, »Stankhaus«, »Schimmelkasten« und »Harnkrug«, aus dessen Löchern nur »widerwärtiger Unflat« strömt. Diese Rede des Todes erlaubte es, den Menschen in einer Art von Mittelposition festzuhalten: Auf der einen Seite ist er abgegrenzt von den Tieren, auf der anderen Seite von Gott und den Engeln. Der Mensch steht in der Mitte zwischen Tier und Gott: Soviel läßt sich auch am porphyrischen Baum erkennen, an dieser Stufenleiter des Seins, die im Neoplatonismus ein Denken zahlreicher Überfließungen, Emanationen, ermöglicht hat. Noch Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sind – ihrer universalgeschichtlichen Argumentation zum Trotz – geradezu besessen von der Idee, daß der Mensch das Wesen in der Mitte ist, nicht nur das »Mängelwesen«, sondern der »Freigelassene der Schöpfung«, der sich nach unten (zur Bestie) oder nach oben (zum Geistwesen) weiterentwickeln kann. In dieser Mitte vereinen sich die Prinzipien der »Domestikation«, wörtlich genommen: die Zusammenhänge zwischen dem Wohnen im Haus des Seins, dem Gewöhnen und dem Verwöhnen. Das Gewöhnen ist – neben dem Verwöhnen – vielleicht ein ebenso interessanter Prozeß der frühen Menschheitsgeschichte. Der Bau von Häusern, das Sprechenlernen, aber auch Befehlen und Gehorchen, setztGewöhnungen voraus; ohne Gewöhnung können wir unsere Verwöhnung – einschließlich ihrer Durchkreuzung in Tod, Hunger und Krankheit – gar nicht wahrnehmen. Der »Freigelassene der Schöpfung« kann sich gewöhnen, jenseits von Schicksal und Zwang. Gewöhnen und Verwöhnen, diese Anfänge des Wohnens, lassen sich – wie Du vorschlägst – nur als Themen der Topologie zureichend denken. Und gerade die Zeit – selbst als miserabilistischer Inbegriff einer Erfahrung der Vanitas, der Vergänglichkeit des Lebens – wird stets topologisch vorgestellt. Bis vor kurzem haben wir die Zeit niemals anders als topologisch imaginiert, in Begriffen der Entfernung oder der meßbaren Erstreckungen. Die Zeit war von Anfang an ein Epiphänomen des Raums, so wie die Erinnerung. Wer sich erinnert (oder plant), baut Räume, innere Paläste, wie wir sie aus der ars memoriae kennen. Aber zurück zum Verwöhnen, das – wie Du meinst – dem Wohnen, ja sogar dem Gewöhnen vorausgeht. Wann und wo wurde die »Verwöhnungsrakete«, von der Du sprichst, eigentlich abgeschossen?
Sloterdijk: Die spezielle menschliche Verwöhnung kommt zustande durch die Verschmelzung eines Situationsvorteils, der bei dem Savannenläufer frühmenschlichen Typs auftritt, mit einem alten animalischen, schon bei den Hominiden
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