Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
voll ausgeprägten Wärmevorteil, der in den Mutter-Kind-Beziehungen der Großaffen manifest wird. Die Formel heißt: Savannen-Sicherheitseffekt plus hominide Wärmestube. Sobald diese beiden Faktoren zusammentreffen, entsteht der spezielle Brutkasteneffekt, als dessen Resultat homo sapiens auftritt. Es gibt eine Naturgeschichte der Verwöhnung, die weit vor das menschliche Feld zurückreicht. Seit Julius Kollmann, einem Biologen des späten 19. Jahrhunderts, bezeichnet man das Phänomen der Festhaltung jugendlicher Morphologien als Neotenie. Die Neo-Merkmale der Jungen und Jugendlichen werden durch Neotenie, sprich Jugendfesthaltung, in die Morphologie des Erwachsenen projiziert, anders gesagt, es kommt zu einer allgemeinen Protraktion von Jugendformen – ein Phänomen, dasBiologen an zahlreichen Tierarten festgestellt haben. Es ist bekanntlich stark topologisch bedingt, weil es sich, soweit ich sehe, ausschließlich bei nestbauenden, höhlenbewohnenden oder sonstwie nischentechnisch begünstigten Tierarten beobachten läßt. Man versteht sofort, daß die nestbauenden Tiere einen enormen Sicherheitstransfer zugunsten ihrer eigenen Brut in Gang setzen, der sich früher oder später in der biologischen Erscheinungsform des Nachwuchses manifestieren wird. Die im Offenen lebenden Fluchttiere kennen diesen Transfer nicht – und das heißt, sie können sich keine so weitgehende Juvenilisierung ihrer Nachkommen leisten. Hingegen erzeugen die Nestbauer einen spontanen Brutkasteneffekt zugunsten ihrer Jungen. Ich sehe das bei Katzen, ich sehe das bei Hunden, ich sehe das bei zahllosen anderen Säugern, um von dem berühmten Axolotl zu schweigen. Überall dort, wo der Nestsicherheitseffekt eintritt, können die Kinder in einem erschütternd unfertigen Zustand geboren werden. Vergleichbares beobachtet man übrigens auch bei den Beuteltieren, die ja entwicklungsgeschichtlich die interessantesten Lebensformen sind, weil sie quasi die Mittellösung zwischen Lebendgeburt und Eiablage verkörpern. Hier rührt man an die topologischen Rätsel der Neotenie: Sobald Uterusleistungen vom Mutterkörper auf ein Nest transferiert werden können, leistet sich die Natur einen zusätzlichen Verwöhnungsluxus: Die Kinder werden ein gutes Stück unfertiger geboren, als dies bei exponierteren, nestlosen Lebensformen der Fall wäre. Nun wird es auch philosophisch interessant: Denn hochgradig unfertig geboren werden heißt, die Nervensysteme mit der Chance der Aposteriori-Reifung in Berührung bringen. Wenn die Verdrahtung der Nerven schon weitgehend a priori oder vorgeburtlich erfolgt, dann kriegen wir ein Tier, das relativ wenig lernt, weil es wenig zu lernen braucht – ein relativ fertiges Tier in einer relativ fertigen Umwelt. Die Frühgeborenen hingegen fangen mit dem Abenteuer der Unfertigkeit an und lassen sehr viel Aposteriori zu. Folglich gibt es so etwas wie eine Naturgeschichte des Prinzips Aposteriori, sie wäre als Naturgeschichte der Erfahrungsoffenheit, der Weltoffenheit zu schreiben. Und das hat mit dem Verwöhnungsluxus zu tun, bzw. mit dem Grad der Unfertigkeit, mit dem ein Nervensystem weltfähig oder weltoffen wird. Aber das alles ist noch Tiergeschichte, muß im Rahmen der Biologie erzählt werden, es ist noch nicht Menschheitsgeschichte. Die biologische Verlängerung der Jugendphase bedeutet, daß Tiere entstehen, die mehr spielen und probieren, die von Natur aus Essayisten sind und eine verlängerte Gehirnreifungsphase haben. Das Verhältnis zwischen Apriori und Aposteriori läßt sich jedenfalls auch neurologisch erzählen. So weit die Skizze für die erste Hälfte meines topologischen Arguments. In der zweiten Hälfte wird die anthropologische Raumfrage weiter zugespitzt, und zwar durch folgende Überlegung. Wir sind bekanntlich Nachkommen einer Baumaffenart, die sich zum Savannenaffen gewandelt hat. Aber wie kommt der Baumaffe in die Savanne? Und wie wird aus einem Kletterer ein Läufer? Wie entstand der aufrechte Gang? Wie waren alle diese Exodus-Phänomene möglich? Lauter ziemlich heikle Fragen – und zugleich so etwas wie das thema probandum für Anthropologen, denn wer zum aufrechten Gang nichts sagen kann, hat die Sache des Menschen noch nicht recht erfaßt. Aber für den Augenblick interessieren wir uns nicht so sehr für das Vertikalaffenproblem, sondern für die Beschaffenheit des Ortes, an dem Affen Menschen werden konnten. Noch einmal begründen wir den Primat der Topologie und bieten zudem ein Argument
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