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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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nichts gemein?
    Sloterdijk: Er ist ein Geschöpf des saudischen Eskapismus, aber zugleich sein Renegat. Es ist sein Ziel, die bizarrste Allianzder Weltgeschichte zu zerstören, jene Entente Cordiale zwischen den USA und Saudi-Arabien. Durch diese Allianz werden die beiden großen Eskapismus-Mächte der Welt aneinandergekettet wie zu einem synchronen Schlafwandeln. Man darf nicht vergessen, daß die USA auf ihre Weise ebenfalls eine rein eskapistische Nation darstellt. Von der Alten Welt aus gesehen ist leicht erkennbar, warum. Die Bevölkerung des Landes besteht überwiegend aus Menschen, die aus unerfreulichen Verhältnissen geflohen sind, um anderswo neu anzufangen. Das Land selbst beruht auf der Flucht ins Glück. Es sind im Grunde lauter Flüchtlinge vor einer heimischen Misere, Leute, die meinen, entkommen zu sein, sei es vom Schlechten ins Bessere oder vom Guten ins Phantastische. Durch seine abnorme Ölabhängigkeit ist der American way of life aber an die Golfregion gekettet: So werden die beiden großen Eskapismuspole der Erde ironisch aneinandergebunden. Der saudische und der amerikanische Traum stützen sich gegenseitig. Solche Länder bringen unweigerlich die ihnen entsprechenden Traumfabriken hervor. Auch die Araber haben ihr mythenschöpferisches Stadium erreicht und fangen jetzt an, sich zu poetisieren, sie sind dabei, sich als Agenten einer großen Geschichte zu erfinden. Die Luft ist voll von Märchen und imperialen Epen – und von epischen Feindschaften, ohne die es keine große Erzählung gibt. Die jungen Männer saugen sich voll mit einer heroischen Märchenparanoia, nach der sie den nahen Feind zu Hause und den fernen Feind jenseits des Atlantiks bekämpfen sollen. Bin Laden ist deswegen so interessant, weil er die magische Kollegialität zwischen den beiden Eskapismusmächten torpediert – er hat verstanden, daß gegen Traumfabriken nur alternative Traumfabriken helfen. Bürger einer echten Eskapismus-Macht wollen sich nicht mehr mit Widerständen von gestern abgeben müssen. Eskapismus ist ja das Bewegungsmuster, bei dem man vom Widerstand weg lebt. Wenn man sich dennoch weiter mit Hindernissen zu beschäftigen hat, so nur darum, weil dich das alte Übel an deine neue Bleibe verfolgt. Da bist du aus der altenWelt geflohen und hast all die alten Belästigungen hinter dir gelassen, und nun holt dich ein, was du verlassen hast. Am besten wird dann wohl sein, das Übel an seiner eigenen Quelle auszulöschen.
    Poschardt: Dann ist die Entstehungsgeschichte von Amerika erst mal grundgelegt in der Flucht der Europäer an einen Sehnsuchtsort, der sich bewährt. Das beginnt an der Ostküste und flieht weiter nach Westen bis an die Pazifikküste. Dort entsteht Hollywood, wo man die Flucht dematerialisiert und weiterdenkt.
    Sloterdijk: Tatsächlich, das Going West ist grundlegend für die ganze Moderne: Von Europa über den Atlantik, und weiter von der Ostküste zur Westküste. Doch damit ist die große eskapistische Drift längst nicht am Ende. An der Mauer des Pazifik stauen sich die Fluchtenergien und steigen nach oben. So entsteht Kalifornien als erstes Land des Go high, Go easy, Go rich, Go famous. In allem steckt dieselbe Dynamik, dieselbe Flucht ins leichte, herrliche, verklärte Leben. Immer will man den alten Depressionsmächten von der Schippe springen. Und doch, spüren die Amerikaner, irgendwas schleicht hinter uns her, was wir nicht ganz loswerden konnten. Da sind verfolgerische Kräfte am Werk, die uns bis ins Herzland der Evasion auf den Fersen bleiben. Viele werden auf der Flucht müde und sind in Gefahr, das Rennen verloren zu geben. Ob es ein Zufall ist, daß die USA das Paradies der Psychopharmakaproduzenten sind? Und die Hölle der Übergewichtigen, denen die Waage sagt, daß es um ihre Fluchtfitneß nicht gut steht.
    Poschardt: Demnach wäre das »Nation building«, die Idee Demokratie – zur Not auch mit Waffengewalt – zu exportieren, auch Ausfluß dieses Eskapismus?
    Sloterdijk: Nation building ist der Versuch, mögliche Verfolger am Ort zu sedieren.
    Poschardt: Glauben Sie daran?
    Sloterdijk: Natürlich nicht. Nicht, weil ich den Amerikanern nicht vertrauen wollte und ihren Unternehmungen keinen Erfolg wünschte. Im Gegenteil, man wünscht dem Programm als solchem alles Gute. Aber als Europäer weiß man ein paar Dinge, die unsere Zuversicht ins politische engineering trüben. An sich ist Nation building kein dummer Begriff. Mit ihm könnte man einen Gutteil dessen resümieren,

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