Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Hause sind ohne Soutane in die Arbeiterviertel gezogen, um das Leben der Ärmsten und Bedrücktesten zu teilen. Sieht man von diesen Extremen ab, sind durchschnittliche Menschen Komparatisten, die sich in der Mitte zwischen Unglück und Glück einpendeln.
PANTEL: Aber wir haben fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland. Sie würden doch nicht zu denen hingehen und sagen: Dir geht's ja gar nicht so schlecht verglichen mit einem Teppichknüpfer in Bangladesch, also sei mal zufrieden! Geht es nicht eher darum, daß Arbeitslose ihre Perspektive ändern,daß sich aus dieser neuen Sicht der eigenen Situation auch Chancen ergeben könnten für ein anderes Leben?
Sloterdijk: Das ist eine alte Debatte. Carl Friedrich von Weizsäcker hat schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert gesagt: Arbeitslosigkeit, so wie wir sie interpretieren, ist ein Ergebnis unserer Unfähigkeit, eine Errungenschaft positiv zu deuten. Und um eine Errungenschaft handelt es sich wirklich, wenn es uns gelungen ist, Arbeit zu reduzieren. Seit es die Arbeit gibt, existiert auch das Märchenmotiv von der Abschaffung der Arbeit – nicht des tätigen Lebens, wohlgemerkt!
Die schwere Arbeit im Sinne von labor improbus, wie es bei den Römern hieß, also die Schinderei, die Knochenarbeit, die physische Entfremdung, die dadurch entsteht, daß der Mensch neben dem Pflügeochsen und dem Pferd als Kraftmaschine gebraucht wird: das ist über Jahrtausende der dunkle Punkt der conditio humana gewesen. Hiervon hat sich die moderne Zivilisation durch ihre Maschinenkultur und die modernen Formen der Arbeitsteilung fast ohne Rest emanzipiert. Die einzigen Menschen, die sich heute muskulär anstrengen, sind Körperkünstler oder, wie man sagt, Sportler. Wenn Muskeln noch beansprucht werden, dann unter einem artistischen oder künstlerischen Vorzeichen, einfach weil der Sport, wenn er auf einer bestimmten Ebene betrieben wird, genauso wie ein Kunstwerk um des Zeigens willen betrieben wird. Sportler sind Schauspieler der körperlichen Performance.
PANTEL: Warum ist es denn bislang nicht gelungen, die durch die Maschinenkultur frei gewordene Zeit, also »Arbeitslosigkeit im positiven Sinne«, sowohl gesellschaftlich als auch individuell anders zu deuten und zu nutzen? Im Gegenteil, es gibt, wie Sie formulieren, den »Terror der Arbeitslosigkeit, der sich als Nichts-zu-tun-Haben« zeigt. Warum gibt es keine sinnvollere Lösung?
Sloterdijk: Es gibt keine Lösung, weil der Arbeitslose als ein Mängelwesen beschrieben wird. Der Arbeitslose empfindet sich nicht als ein Arbeitsfreier, er wird durch seine Arbeitslosigkeit nicht zum Herrn, sondern zum Sklaven, zum Almosenempfänger, zum Beraubten, ja im Grunde genommen zu einem Kranken. Arbeitslosigkeit, so wie wir sie interpretieren, ist eine soziopathische Situation, in der dem Menschen die wichtigsten Aspekte der ökonomisch gedeuteten Menschenwürde geraubt werden: Ihnen wird die Genugtuung entzogen, ihre Selbsterhaltung aufgrund eigener Arbeit zu sichern. Tatsächlich finden sich Arbeitslose in einer wenig beneidenswerten Lage, solange sie umzingelt sind von einer Kultur, die das selbsttätige Leben als Lohnabhängigkeit definiert. Wenn dann der Arbeitsplatz fehlt, scheint mit einem Mal alles zu fehlen. Die härtesten Aussagen zu diesem Thema findet man übrigens schon sehr früh, bei Hannah Arendt, die in ihren Buch »Vita activa. Vom tätigen Leben« eine radikal-snobistische Interpretation der Arbeitslosigkeit vorgetragen hat. Dort findet man eine sehr anspruchsvolle, sehr nostalgische und ziemlich fatale Theorie des Menschen als einem aktiven Lebewesen. »Vita activa«, das will besagen: Der Mensch kennt die Welt durch drei Arten und Weisen des Aus-sich-Herausgehens: das Handeln, das Herstellen und das Arbeiten. Was das im einzelnen bedeutet, kann ich hier nicht erklären, aber die Pointe läßt sich leicht widergeben: Wenn die Moderne dazu tendiert, das Handeln, sprich die Politik, zu eliminieren, und das Herstellen auf die Maschinen zu übertragen, so bleibt für die große Mehrheit der Menschen nur das Arbeiten als dominierender Lebensinhalt übrig. Und wenn dann einer Arbeitsgesellschaft, die essentiell eine Banausengesellschaft ist, auch noch die Arbeit ausgeht, so entsteht ein Restmensch, ein unpolitischer Höhlenbewohner, ohne Kunst, ohne Bildung, und zuletzt auch ohne Job. Das ist Hannah Arendts Befund aus den fünfziger Jahren: die moderne »Gesellschaft« als ein Konglomerat aus tragischen Banausen. Wir
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