Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
hatten ein halbes Jahrhundert Zeit, um zu beobachten, wie sich diese prophetische Formel von der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, mit Inhalt gefüllt hat. Aber ich glaube, daß wir heute an einer Wende stehen. Der Unterschied zwischen Nicht-Arbeitsbesitz und Arbeitsbesitz, zwischen den Arbeitslosen und den Anderen, verwischt sich mehr und mehr, und zwar aufgrund des Phänomens der sogenannten Freizeitgesellschaft, in der mehr und mehr in Teilzeit oder in Kurzarbeitswochen gearbeitet wird und in der große Zahlen von Menschen dazu verurteilt sind, enorme Guthaben an Freizeit zu interpretieren – ich lasse für den Moment die Hochleistungsklasse beiseite, für die eine 70- oder 80-Stunden-Woche typisch bleibt. Es stellt sich dann die Frage, mit welchen Mitteln diese Menschen ihre luxurierenden Freizeiten gestalten.
PANTEL: Noch mal grundsätzlich gefragt: Was ist dafür verantwortlich, daß Arbeitslose als »Mängelwesen« angesehen werden, was ist der Mechanismus, das Prinzip, die Kraft, die Menschen, die Interessen dahinter? Oder fehlt es einfach an Ideen?
Sloterdijk: Ich glaube gar nicht so sehr, daß es Ideen sind, die fehlen. Es fehlt an Haltungen. Ideen hätten wir genug, aber die Haltungen, mit denen man solche Ideen durchstehen könnte, lassen sich nicht finden. Wir haben so eine Art Sonntagssozialismus, der hin und wieder rhetorisch heraufzitiert werden kann, aber keinen Solidarismus, der auch werktags funktioniert. Wir kennen eine sonntägliche Beziehung zur Askese und einen werktägigen Konsumismus. Wir sind vertraut mit einem sentimentalen Ausnahmezustand, in dem wir uns mit akut Benachteiligten solidarisieren, denken Sie an die Erfahrungen mit dem Elbehochwasser, aber keine Grundhaltung des Teilens oder der Einbeziehung. Hinzu kommt sicher noch eine aus dem Calvinismus ererbte Überzeugung, die in Ländern wie Großbritannien und den USA mehr als bei uns verbreitet ist: daß jeder das Schicksal hat, das er verdient, so daß eine aktive Umverteilungspolitik, im Sinne der Abschaffung der bitteren Armut, hieße, Gott ins Handwerk zu pfuschen.
PANTEL: Aber glauben Sie nicht, daß es ökonomische Interessen oder Kräfte gibt, die sagen: Da darf sich nichts ändern, das Lohnarbeitsprinzip muß aufrechterhalten bleiben, sonst bricht dieses System ganz auseinander, und das wollen wir nicht.
Sloterdijk: An dem Argument ist etwas Wahres dran. Man darf nicht vergessen, daß die moderne Gesellschaft, das System im Ganzen, einen Akzentwechsel vollzogen hat vom paternalistischen Staat, also vom Staat, der streng auftreten konnte, zu einem maternalistischen Staat, der zur Verwöhnung verdammt ist. Damit rühren wir an das große sozialpsychologische Abenteuer des 20. Jahrhunderts: die Maternalisierung des Staatszusammenhangs. Er verkörpert sich in den Systemen der Solidarkassen, von denen bekannt ist, daß sie sich nur auf der Grundlage von Lohnarbeit plus Zwangsabgabe betreiben lassen. Hier wird der postmoderne soziale Nexus deutlich: Alle werden zur Verwöhnung aller herangezogen. Daß das spätestens in der zweiten oder dritten Generation zu Paradoxien führen muß, liegt auf der Hand. Deshalb liegt jetzt eine Stimmung von offener Desolidarisierung in der Luft. Man merkt, daß die aktuellen Beitragszahler durch die nachrückenden nicht mehr entsprechend alimentiert werden können. Man macht sich bewußt, daß im Sozialvertrag immer schon etwas von einer Kettenbriefproblematik enthalten war, was ja auch auf anderen Gebieten verpönt und verboten ist. Dieser Versicherungskettenbrief geht durch die Generationen; je später man in der Empfängerreihe steht, desto sicherer ist man Verlierer. Das ist einer der Gründe, warum ein Abrücken vom Prinzip Lohnarbeit bei uns auf lange Sicht nicht möglich sein wird. Die Liaison von Lohnarbeit und Sozialabgabe bleibt bis auf weiteres der Nerv des sozialen Zusammenhangs. Dies gälte auch dann, wenn man das Schweizer System einer Gesamtumlage der Sozialabgaben übernähme, wo freie Berufe, Beamte, Unternehmer und Arbeitnehmer mit einem Mal indifferent behandelt werden und alle für alle und für alles zahlen. Immerhin bietet das eine interessante Alternative zu den bisherigen Modellen. Sie würde fürs erste zu einer starken Absenkung der Abgaben der einzelnen führen bei gleichzeitiger Zunahme der Kassenbestände. Ein anregendes Modell, von dem ich freilich nicht weiß, ob es übertragbar ist und wie es sich auf längere Zeit rechnet.
PANTEL: Die Verwöhnung
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