Ausgezählt
und die Nationalstraße nach Phnom Penh waren auch nachts in der Hand der Regierungstruppen.
Der Pilot rief etwas nach hinten in die Kabine. Keiner achtete darauf. Sok San angelte nach einer Spinne, die sich an der Decke gegen die Zugluft stemmte und setzte sie Fred aufs Gesicht, der noch immer schlief. Der Wind riss das Tier von der Nase, wehte es einem der beiden Jungen ins Auge, der sie schreiend aus der Kabine fegte. Sein Bruder und Sok San krümmten sich vor Lachen – die Vorstellung, dass diese lebenslustigen Schlitzaugen etwas mit den killing fields zu tun haben könnten, schien Bruno in diesem Augenblick so irreal wie die Welt außerhalb der Kabine.
Es hieß, die Herrschaft der Roten Khmer habe in den siebziger Jahren einer Million Menschen das Leben gekostet. Der Einmarsch der Vietnamesen hatte das Terrorregime beendet. Seitdem tobte im ärmsten Land der Welt ein Bürgerkrieg verschiedener Parteien, die sich umso verbissener bekämpften, seit sie im fernen Paris um einen Frieden feilschten. Doch wie Krieger wirkten Brunos Begleiter nicht. Die Jungen waren vierzehn und sechzehn und trugen nichts als Shorts, zerlumpte T-Shirts und Plastiksandalen. Sok San war klein und drahtig, kaum älter als Bruno und Fred, etwa Mitte zwanzig. Er trug als Einziger Klamotten, die als Uniform durchgehen konnten, aber weite, in Tarnfarben bedruckte Hosen waren auch zu Hause in Deutschland modern.
Klees Einkäufer hatte erwähnt, dass Sok Sans Bell 205 aus Beständen der US-Marines stammte und schon im Vietnamkrieg eingesetzt worden war – insgeheim belieferte der Westen die Roten Khmer mit Waffen, Minen und Kriegsgerät. Es ging gegen den gemeinsamen Feind. Ronald Reagan hatte die Sowjetunion als Reich des Bösen bezeichnet und Vietnam gehörte zu ihren Satelliten.
»Ihr steigt auf der richtigen Seite ein«, hatte Silberkuhl erklärt.
Bruno und Fred war die Politik egal. Sie reizte das Abenteuer.
Das Knattern des Helikopters bekam einen peitschenden Nachklang. Sie rasten über den Tonle Sap, den größten Binnensee Südostasiens. Kräuselnde Wellen spiegelten das Morgengrauen. Sok San wies die Kids an, das Maschinengewehr auf die Drehbolzen zu wuchten.
Die Kufen schrammten das Wasser, Fontänen spritzten auf. Die alte Bell musste das Radar der Regierungstruppen unterfliegen.
Endlich öffnete auch Fred die Augen und streckte sich. »Sind wir schon da?«
»In wenigen Minuten.«
»Hab gerade von Karen geträumt. Die Tusse wollte, dass ich bleibe. Sie setzte ihre Möse ein und beinahe hätte sie mich überredet. Mein Gott, hab ich ’ne Morgenlatte!«
Bruno verstand ihn kaum. Das Dröhnen hing zwischen ihnen.
Fred zog die Karte aus dem Rucksack. Der Wind zerrte daran. Bruno half dem Freund, den Plan auf dem Kabinenboden zu entfalten.
Am unteren Rand war die Stadt eingezeichnet. Linien zogen sich nach Norden und Osten zu Punkten, die Tempel markierten.
Angkor – ein Ausbruch in die Freiheit.
Brunos Mutter hatte versucht, ihm nach dem Abitur eine Lehre bei der Stadtsparkasse einzureden. Erst hatte sie seinen Vater vertrieben, dann ging sie ihrem Sohn mit Vorschriften und Bevormundungen auf den Wecker. Bruno hatte sich durchgesetzt und ein Studium begonnen. Doch er hatte feststellen müssen, dass Jura ihn langweilte. Die Seminare waren voller Streber, mit denen er nichts anfangen konnte.
Fred war ebenfalls unzufrieden, obwohl sein Vater ihm alle Freiheiten ließ. Fred jobbte und half gelegentlich im Antiquitätenladen aus. Neuerdings wollte ihn die Bundeswehr.
Als die Nachricht eintraf, dass Silberkuhl auf der Landstraße von Bangkok nach Ayutthaya verunglückt war, sahen Bruno und Fred darin ein Signal, aus dem gewohnten Trott auszubrechen. Klee senior brauchte jemanden, der dem Einkäufer Bestellungen und Bargeld brachte. Mit der Kohle, die ihnen der Antiquitätenhändler als Spesen mitgab, wollten sie anschließend eine Weile an den Stränden Südthailands abhängen.
Fred überlegte, sich einen Job als Tauchlehrer zu suchen und in Südostasien zu bleiben, bis das Kreiswehrersatzamt ihn vergessen würde.
Bruno hatte sich noch nicht entschieden, was er nach der Reise anfangen würde.
Als sie in Bangkok angekommen waren, lag Silberkuhl noch immer im Bamrungrat-Hospital an der Sukkhumvit Road. Er wollte mit Gips und Krücken das Krankenhaus verlassen – ein Dutzend Schwestern und Ärzte protestierten lautstark. Sie streckten ihn mit einer Spritze nieder.
Der Einkäufer war verzweifelt. Die Bell stand bereit.
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