Ausländer
der Schule war, machte er, wie so oft, einen Abstecher in die Bibliothek. Er suchte nach einem Buch, in dem er mehr über Polen erfahren würde. Ein oder zwei, so hoffte er, könnten ja durch das Raster gefallen sein. Doch offenbar war dem wachsamen Auge von Frau Knopf, die ihm seine Frage nach dem polnischen Autor bis heute nicht verziehen hatte, kein einziges entgangen.
In einer Abteilung der Bibliothek befand sich, abgeschirmt durch ein Regal, eine kleine Nische mit Tisch und Stuhl. Dortverkroch sich Peter oft vor dem Rest der Welt, und es war ein guter Platz, um in Ruhe zu lernen. Heute sah er durch eine schmale Lücke zwischen den Buchreihen, dass der Tisch bereits besetzt war. Er erkannte die Person auf Anhieb – Anna Reiter, das hübsche dunkelhaarige Mädchen, das ihm bei der Leichtathletik-Vorführung in Charlottenburg zum ersten Mal aufgefallen war. Segur hatte erwähnt, dass ihre Familie in der Nähe wohnte, und Peter hatte sie seitdem ein- oder zweimal auf der Straße gesehen.
Peter genoss es, ihr, versteckt hinter den Büchern, zuzuschauen. Um sie nicht zu stören, nahm er einen Band aus dem gegenüberliegenden Regal und tat, als würde er lesen, während er sie durch die Lücke hindurch beobachtete.
Anna hatte ein Buch in der Hand, auf dessen hinterem Umschlag Hitler abgebildet war. Sie hielt es in die Höhe und sah es missbilligend an. In der Überzeugung, niemand könne sie sehen, begann sie die Haltung und den Gesichtsausdruck des Führers nachzuäffen. Hand auf der Hüfte, mit kerzengeradem Rücken, imitierte sie seine Miene – die eines trotzigen, bockigen Kindes.
Peter traute seinen Augen kaum. Anna, die BDM -Scharführerin! Damit sie ihn nicht entdeckte, zog er sich leise zurück und begann ein paar andere Bücher herauszusuchen, die ihm beim Lernen nützen konnten. Als er die Bibliothek verließ und den Heimweg antrat, ging sie keine fünf Meter vor ihm. Er holte sie ein.
»Du bist doch der polnische Junge, oder?«, erkundigte sie sich, weder freundlich noch feindselig. »Der bei den Kaltenbachs wohnt?«
Peter nickte. »Ja, das ist ganz in deiner Nähe. Ich heiße PeterBruck. Darf ich dich vielleicht nach Hause begleiten? Es ist eine dunkle Nacht, und man weiß nie, wer hinter der nächsten Ecke lauert.«
Sie lachte. »Der Führer hat unsere Straßen sicherer gemacht, so viel steht fest.«
Sie begannen, sich gezwungen zu unterhalten. Als ihnen ein Mann mit einem großen Schäferhund begegnete, sagte sie beiläufig: »Wie sehr der Führer seine Hunde liebt!«
Da schoss ihm ein rebellischer Gedanke durch den Kopf. »Klar liebt er seine Hunde«, erklärte er. »Sie sind gehorsam und stellen keine Fragen.«
Zuerst sah sie ihn durchdringend an, dann lachte sie. »Na, hätten wir nicht alle gern solche Freunde?«, erwiderte sie.
»Ich weiß nicht recht«, entgegnete Peter. »Es ist doch schön, Freunde zu haben, die eine eigene Meinung vertreten, findest du nicht?«
Sie schwieg. Dann meinte sie: »Das Gespräch, das wir führen, Meister Bruck, ist gefährlich. Professor Kaltenbach würde ein derart gewagtes Freidenkertum ganz und gar nicht billigen, da bin ich mir sicher.«
Peter wurde kühner. »Professor Kaltenbach wäre sehr enttäuscht«, sagte er.
Eine unbehagliche Stille trat ein. Auf dem restlichen Weg sprachen sie kaum mehr ein Wort. Peter fürchtete schon, er habe zu viel gesagt. Doch als sie bei Annas Haus ankamen, sagte sie: »Danke, dass du mich begleitet hast. Es war ein hochinteressantes Gespräch. Wir müssen uns wieder mal unterhalten.«
Als Peter zu Hause ankam, hatte er das Gefühl zu schweben.
Kapitel sechzehn
April 1942
Von da an trafen Anna und Peter sich häufiger. Beide besuchten oft die Bibliothek, und Peter blieb nicht selten auch zum Lernen dort. In einer der ruhigen Ecken kam er immer gut voran. Professor Kaltenbach befürwortete das. Die von den Nazis vertretene Einstellung, Jungen bräuchten mehr Körperertüchtigung als Bildung, entsprach nicht ganz seinen Vorstellungen. Wenn Peter nach seinem Dienst als Luftwaffenpilot Arzt oder Wissenschaftler werden wollte, würde er schwierige Prüfungen zu bestehen haben.
Anna setzte sich oft zu ihm und erledigte ebenfalls ihre Schularbeiten. Sie war fleißig, keinesfalls gesellte sie sich bloß zu ihm, um zu plaudern. Wenn es dunkel geworden war, gingen sie zusammen nach Hause. Manchmal unterhielten sie sich über gemeinsame Freunde, manchmal im Flüsterton über ihre Hausaufgaben. Einmal hatten beide einen
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