Ausländer
Als er sich mit seinem Freund Mehler auf den Heimweg machte, erklärte er: »Ich habe noch einen Trumpf im Ärmel. Wenn man in der Familiengeschichte dieser Polacken ein bisschen rumwühlt, findet sich fast immer irgendwo ein Jude.Das sagt mein Vater, und der ist schon lang genug da drüben, er muss es wissen. Wenn er auf Heimaturlaub kommt, werde ich mit ihm ein Wörtchen über Peter Bruck reden.«
Mehler kicherte. »Wie hält dein Vater das aus, da drüben mitten im Abschaum des Generalgouvernements? Aber was Bruck betrifft, hast du recht. Ihm fehlt es an der rechten nationalsozialistischen Haltung. Wenn wir uns treffen, zögert er immer, mit ›Heil Hitler‹ zu grüßen. Das mag ja vielleicht nur nachlässig sein, aber es verrät doch seine innere Einstellung. Ich bin sicher, dass da irgendwo in ihm ein kleiner Judenlümmel steckt.«
Es war kein guter Jahresanfang. Wenige Tage nach den Bombenangriffen kamen weitere schlechte Meldungen von der Ostfront. Die 6 . Armee von General Paulus stand in Stalingrad vor einer Katastrophe. »Was man uns erzählt, ist schlimm genug, aber weiß der Himmel, wie es dort wirklich aussieht«, hatte Segur Peter zugeflüstert.
Ende Januar übertrug der deutsche Rundfunk einen Funkspruch von General Paulus an Hitler. Die Kaltenbachs lauschten in respektvollem Schweigen.
»Am Jahrestag Ihrer Machtergreifung grüßt die 6 . Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der Hoffnungslosigkeit nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen. Heil, mein Führer.«
Professor Kaltenbach wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und verkündete: »Wie könnten wir angesichts solch unbezwingbaren Willens diesen Krieg verlieren?«
Drei Tage später kapitulierte General Paulus. Dem deutschenVolk tat man die erste schwere militärische Niederlage kund, indem auf allen Sendern stundenlang ernste klassische Musik gespielt wurde.
Am nächsten Tag traf sich Peter mit Anna. »Schlechte Aussichten für die Zukunft«, meinte sie. »Ein in die Enge getriebenes Tier ist noch gefährlicher als sonst. Du wirst schon sehen. Die Nazis werden nach dieser Erfahrung noch fanatischer und irrationaler agieren.«
Herr Kaltenbach schien fassungslos. In den Tagen nach der Kapitulation wirkte er wie benommen. Eines Morgens rasierte er sich nicht einmal; das war noch nie vorgekommen. Wenn eines der Mädchen ihn ansprach, brüllte er es an. Charlotte lief in Tränen aufgelöst zu ihrer Mutter. Nicht, dass sie dort viel Trost gefunden hätte. Frau Kaltenbach zeigte sich verkniffener und zugeknöpfter denn je. Fast empfand Peter Mitleid mit der Familie.
Kurze Zeit später hörte Peter die Eltern streiten, nachdem die Kinder schlafen gegangen waren. Das Ohr an die Wand seines Zimmers gepresst, hörte er Frau Kaltenbach zetern: »Sag das bloß nie wieder, Franz. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du den Führer und das deutsche Volk mit derart defätistischem Gerede verrätst.«
Peter war erstaunt. Er drückte das Ohr noch fester an die Wand. Frau Kaltenbach hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt und sprach nun leiser. Trotzdem war Peter sicher, dass einer von ihnen irgendwann im Laufe ihrer Auseinandersetzung »Schweiz« gesagt hatte. Planten sie etwa die Flucht?
Als Peter Anna davon erzählte, grinste sie spöttisch. »Ein paar von den Nazis, die schlimmsten, werden bis zum bitteren Ende kämpfen. Hoffen wir, dass es mehr Leute gibt wie Professor Kaltenbach. Die den Ritt genossen haben, aber wissen, wannes Zeit ist, abzuspringen.« Dann ließ sie den Spott bleiben und sagte sehr aufgebracht: »Sonst wird von Deutschland nicht mehr viel übrig sein, wenn der Krieg vorbei ist.«
Peter hatte nie darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn die Deutschen den Krieg verlieren würden. Ihm war das Nazireich so unerschütterlich und beständig erschienen wie dessen massive, mit Hakenkreuzen geschmückten, steinernen Bauten. Hitler sprach oft von dem »Tausendjährigen Reich«, doch nun hatte es den Anschein, als wäre an seinem Traum von der Unbesiegbarkeit etwas faul.
Seitdem man ihm verziehen hatte, war Peter wieder Gast im Hause der Reiters. Die Besuche hatten ihm gefehlt. Annas Eltern faszinierten ihn. Oberst Reiter fragte ihn, wie der Krieg seiner Meinung nach ausgehen würde.
»Darüber habe ich eigentlich nie nachgedacht«, entgegnete Peter. »Ich nehme an, der Iwan, die Amis
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