Ausländer
hielt inne, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Jetzt, da das Reich über dein rassisches Erbe Bescheid weiß, wird man dir nicht mehr gestatten, der SS beizutreten, nicht einmal der Partei. Der Staatsdienst ist dir verschlossen, ebenso die Luftwaffe. Mischlinge dürfen keine Führungspositionen bekleiden. Es wird auch keine Treffen mit Fräulein Reiter mehr geben. Wir werden in die Wege leiten, dass du so bald wie möglich sterilisiert wirst.«
»Bleich vor Schreck umklammerte Peter die Tischkante. »Ihr wollt mir die Eier abschneiden lassen?«, flüsterte er. Die Worte waren heraus, bevor er sich beherrschen konnte.
»Peter!«, zischten die beiden gleichzeitig.
»Setz dich und hör zu und hüte deine Zunge«, sagte Kaltenbach schroff. »Du steckst schon tief genug in Schwierigkeiten. Wir sind keine Wilden, Peter. Mischlinge zweiten Grades haben ein Anrecht auf humane Behandlung. Du kommst in ein Krankenhaus, und die Operation wird unter Narkose durchgeführt. Man wird dir nicht die Hoden entfernen. Es ist ein einfacher Eingriff, bei dem die vasa deferentia durchtrennt werden.« Er legte eine Hand auf Peters Schulter. »Du hast schlechtes Blut, Peter. Es ist deine Pflicht, deine deutschen Landsleute vor Schaden zu bewahren, indem du den Makel des Jüdischseins nicht weitergibst.
Erst einmal werden wir niemandem etwas davon sagen. Den Mädchen schon gar nicht. Ich will nicht, dass sie es erfahren. Du weißt, wie geschwätzig Mädchen sein können.«
Peter war vollkommen verwirrt. Ihm graute davor, sterilisiert zu werden und Anna nicht mehr sehen zu dürfen. Alle möglichen Türen waren ihm nun verschlossen. Aber wenigstens würden sie ihn nicht auf die Straße setzen. Wenigstens würde er nicht mitten in der Nacht von der Gestapo abgeholt oder nach Polen zurückgeschickt.
Den restlichen Tag verbrachte er wie unter Betäubung. Was die Mädchen wohl dachten? Wie viel hatten sie mitbekommen?
Und was war mit Fleischer? Zurzeit absolvierte er die Vorausbildung für künftige Rekruten. Aber wenn er zurückkam, würde es Peters gesamte HJ -Schar erfahren. Und dann würde Kaltenbach etwas unternehmen müssen.
Aber es gab eine noch drängendere Frage. Wie konnte er es anstellen, Anna weiterhin zu treffen? Die Kaltenbachs hatten überall im Viertel Freunde, und es würde nicht lange dauern, bis man sie irgendwo zusammen sah. Er musste unbedingt mit ihr reden. Sobald es möglich war, stahl er sich aus dem Haus und eilte zur Wohnung der Reiters.
Anna war nicht da, aber Ula begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Stefan lebt«, sagte sie und weinte dabei fast vor Freude. »Wir haben es heute Morgen erfahren. Er ist in Gefangenschaft. Das Rote Kreuz hat ein Telegramm geschickt.«
Peter bemühte sich, ein erfreutes Gesicht zu machen, war aber zu niedergeschlagen wegen seiner eigenen misslichen Lage. Er erzählte Ula die ganze Geschichte, und als er von der Sterilisation erzählte, fing er an zu weinen. Sie nahm ihn in die Arme und sprach so liebevoll auf ihn ein, dass er sich wie ein kleiner Junge vorkam, der nach einem Sturz auf dem Pausenhof von der Schulschwester getröstet wird.
»Peter, das ist alles Quatsch. Ich weiß genug über die Nürnberger Rassengesetze, um dir versichern zu können, dass Professor Kaltenbach blufft. Dich sterilisieren zu lassen, wäre ganz allein ihre Entscheidung, und selbst dann müsstest du dich einverstanden erklären. Mischlinge zweiten Grades brauchen auch keine Genehmigung, um Deutsche zu heiraten. Sie dürfen nur keine Juden oder andere Mischlinge zweiten Grades heiraten. Allerdings müssen sich Mischlinge zweiten Grades manchmal einer weitergehenden Rasseuntersuchung unterziehen, die feststellen soll, ob ›der jüdische Blutanteil‹« – dabei wandte sie den Blick zur Decke – »›vorherrschend‹ ist. Ich glaube kaum, dass sie das mit ihrem hoch geschätzten Arier machen werden.« Sie zauste ihm das Haar.
Als Peter sich zum Gehen wandte, fügte sie hinzu: »Ich denke nicht, dass die Kaltenbachs in der Sache so schnell etwas unternehmen werden. Wahrscheinlich werden sie so lange wie möglich Stillschweigen darüber bewahren wollen. Aber irgendwann wird es herauskommen …«
Sie seufzte ungeduldig. »Diese ganze ›Mischlings‹-Geschichte entlarvt den Professor bloß und zeigt, was für ein Unsinn die Rassenkunde doch ist.«
Peter dachte viel über dieses Gespräch nach. Vor allem, weil es das letzte Mal war, dass er Frau Reiter zu Hause an ihrem
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