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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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verstehe ich das. An jedem Tag meiner Reise sprengt sich irgendwo ein Selbstmordattentäter in die Luft. Niemand versteht recht, wie es gelingt, sie zu rekrutieren, denn Selbstmord widerspricht nicht nur dem Koran, sondern vor allem auch dem strengen Ehrenkodex der Paschtunen. Es müssen Ausländer sein, Pakistanis, Araber, sagen viele. Es können nicht nur Ausländer sein. Dazu sind es zu viele. Ich treffe eine Gruppe Soldaten, deren Kameraden gestern gefallen sind. Ich verstehe auch die Desinfektionsmittel vor jeder Kantine, an jedem Waschbecken, in jeder Klozelle, als ob Afghanistan giftig wäre. Sie sind notwendig aus Gründen der Hygiene. Ich verstehe, daß die Kantinen grundsätzlich keine einheimischen Nahrungsmittel verwenden und also buchstäblich jedes Reiskorn, jeder Tropfen Wasser eingeflogen wird. Das ist notwendig nicht aus Gründen der Sicherheit, wie ich vermutete – sondern weil sonst die Preise auf den lokalen Märkten in die Höhe schießen würden, wie der Küchenchef des deutsch-schweizerischen Unternehmens erklärt, das beim Catering in Krisengebieten weltweit an der Spitze steht. Daß Afghanen niemals in Berührung mit den Nahrungsmitteln kommen und in der Küche also nur den Abwasch erledigen dürfen, während die Angestellten der ausländischen Truppen – sogar das Wachpersonal, das die Soldaten beschützt! – meist aus Ländern wie Nepal oder Indien stammt, erfolgt wiederum nicht aus Gründen der Hygiene, sondern der Sicherheit. Natürlich würde er lieber Afghanen einstellen, sagt der Küchenchef. Die seien billiger und dabei wirklich sympathisch. Aber das dürfe er nun einmal nicht, das sei im Vertrag ausdrücklich untersagt, und das müsse man verstehen. Ja, natürlich, sage ich. Aber auch in diesem Gespräch wie in so vielen gelangeich rasch an den Punkt, an dem auch mein Gegenüber nicht mehr versteht.
    – Also, wenn ich manchmal über alles nachdenke, dann wundere ich mich schon, sagt der Küchenchef, als ich mich nach dem Abendessen zu ihm und seinen nepalesischen und indischen Angestellten setze.
    – Worüber?
    – Über alles halt, wie das so läuft. Wir sind hier in Afghanistan, aber mit Afghanistan hat das nichts zu tun, das Obst aus Südamerika, das Schnitzel aus Deutschland, das Wasser vom Persischen Golf, die Köche aus Nepal.
    – Da haben Sie wohl recht.
    – Aber richtig verrückt wird es erst bei den Amerikanern in Bagram.
    – Wieso?
    – Die gehen so weit, die lassen Hummer aus Kuba einfliegen. Aus Kuba! Stellen Sie sich das mal vor.
    Dann zuckt der Küchenchef, der gern mehr Afghanen einstellen würde und an dem es nun wirklich nicht liegt, daß das Land nicht vorankommt, melancholisch die Schultern. Aber woran liegt es?
Zwei britische Befehlshaber
    Die britischen Befehlshaber, Brigadegeneral Nugee und Colonel Moss, haben eine imponierende Art: humorvoll, höflich, direkt, entwaffnend offen, entwaffnend in dem Sinne, daß sie einem die Argumente aus der Hand nehmen, indem sie sie bestätigen. Die afghanische Polizei, die von den Amerikanern und Deutschen ausgebildet wird? Wenig effizient, schlecht geführt, korrupt, dazu eine Pyramide, die auf dem Kopf steht: mehr Offiziere als Wachleute. Die hohe Absprungquote? Kein Wunder, wenn ein Polizist, der von der ISAF ausgebildet wurde, mehr verdient, wenn er anschließend für die ISAF putzt. Die Warlords, die Ministerpräsident Karzai als Sicherheitschefs in der Provinz einsetzt? Gangster. Die Korruption?Wir wundern uns ehrlich gesagt auch, warum der Bruder des Ministerpräsidenten so reich ist. Die Amerikaner? Well, ihre Polizeiausbildung ist im Gegensatz zur deutschen wirklich gut. Die Deutschen, wissen Sie, und der Colonel fängt an zu kichern, wissen Sie, die Deutschen sind sehr sehr gründlich, und das ist auch gut, das respektiere er, aber man bilde in Afghanistan eben keine Kommissare für den mittleren Dienst in einer deutschen Provinzstadt aus. Die Polizeiausbildung der Amerikaner hingegen sei vielleicht ein bißchen oberflächlich, also versuche man jetzt, einen Mittelweg zu gehen.
    – Sehr schön, aber der Widerspruch zwischen dem Auftrag der Amerikaner und dem Auftrag der NATO, zwischen dem Krieg gegen den Terror und dem Wiederaufbau?
    – Hm, gute Frage.
    – Der Süden, was ist mit dem Süden, die Kämpfe, die vielen zivilen Opfer, viertausend Tote in diesem Jahr? Warum sind die Taliban nach fünf Jahren immer noch oder wieder so stark?
    – Sicher gibt es Gründe dafür, sagt Brigadegeneral Nugee, daß die

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