Ausnahmezustand
Lautstärke die höchstmögliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ein Mann mit Rastalocken gerät dennoch in Ekstase, um ihn herum tänzelnd eine Frau mittlerenAlters, deren Kopftuch zwar die Haare, aber nicht die anzüglichen Blicke, Gesten und Hüftschwünge bedeckt. Überhaupt die Menschen im Hof des Schreins, so viele Sonderlinge, Ausgeflippte und vermutlich auch Heilige unter den Normalsterblichen – wo sind sie nur tagsüber, frage ich mich, all die wilden Frisuren, kunterbunten Lumpen, extravaganten Ringe, voluminösen Halsketten, aber vor allem die zerfurchten, verzückten, wie abwesenden Gesichter, die einer anderen Gegenwart anzugehören scheinen? Hier tanzt ein Greis mit einem Plastikkorb auf den hennagefärbten Haaren und mit geschlossenen Augen, dort schreit ein Jüngling vor Liebe zu Gott laut auf.
Es ist weit nach Mitternacht, als ich den Schrein verlasse, zwei oder drei Uhr, da merke ich erst, daß das gesamte Viertel in Feststimmung ist, die staubigen Gassen mit Girlanden geschmückt, erleuchtet und vom Duft frisch zubereiteter Süßspeisen erfüllt, die ärmlichen Straßenrestaurants und Teehäuser voll besetzt, vor ihren Läden die Händler, die dem Treiben gelassen zusehen, häufig Kinder oder Enkel auf ihrem Schoß, Grüppchen von Frauen, die von den Müttern angeführt herumschlendern, aus allen Richtungen Prozessionen, die trommelnd und singend in Richtung des Schreins marschieren, über ihren Köpfen ein fein besticktes, langes Tuch, um es auf dem Grab des Heiligen abzulegen. Auch die Brüder Sain treffe ich wieder, die beiden berühmten Trommler, deren Konzert auf dem Friedhof des Schah Djamal ich zu Beginn meiner Reise besuchte; diesmal stehen Gonga und Mithu auf einer richtigen Bühne, vor ihnen ein großer Pulk von Zuhörern, den komplizierten Rhythmen hingegeben, die ich wieder nicht zu entschlüsseln vermag.
Auf Lastwagen mit offenen Ladeflächen und riesigen Lautsprechern machen nebeneinander die großen Parteien Werbung für sich, indem sie kostenlos Essen verteilen und dabei den Qawwali bis zum Anschlag aufdrehen, als müßten sie die Konkurrenz nicht nur bei Wahlen überstimmen, sondern übertönen. Mit der größten Ladefläche und der lautesten Musik ist die Muslim League vertreten, obwohl sie doch angeblich von Saudi-Arabien finanziert wird. Anderswo tanzen junge Männer in immer neuen Formationen,nicht beseelt, nicht kunstvoll, eher entfesselt bis hin zur Obszönität. Auch ist der Geruch von Marihuana nicht zu verkennen, und die jungen und etwas älteren Frauen, die einen auffallend unauffällig mustern, sehen genausowenig wie die grell geschminkten Transsexuellen aus, als würden sie gleich zu ihren Eltern heimkehren.
Die Schriftgelehrten haben schon recht, geht mir durch den Kopf: Mit den Inhalten des Korans, mit dem Sufismus, wie ihn die klassischen Traktate lehren, hat das hier nicht mehr viel zu tun, mehr mit Jahrmarkt oder der kathartischen Verwandlung eines Karnevals, nur daß diese Party am Geburtstag eines Heiligen steigt, vor den Toren oder sogar im Hof einer Moschee, in der andere Gläubige zur selben Zeit trotz des Lärms sich in Gott versenken oder den Koran rezitieren. Und zugleich ist es eben jene Fähigkeit, an ein und demselben Ort Widersprüche, ja, die größtmöglichen Gegensätze zu ertragen oder sogar für selbstverständlich zu halten, die das komplexe, mit Paradoxien, Uneindeutigkeiten, Rätseln vertraute Denken der Mystik auf dem indischen Subkontinent seit Jahrhunderten einübt. Eben deshalb hat der Drang zur Homogenität, zur glasklaren Bestimmung dessen, was statthaft und unstatthaft ist, islamisch und unislamisch, ausgerechnet in Pakistan einen so gewalttätigen Furor entwickelt, weil hier die traditionellen Lebenswelten noch so viele Ambivalenzen bergen. Mithu Sain zum Beispiel, der jüngere der beiden Trommler, weiß nicht einmal auf die Frage, ob er Sunnit oder Schiit sei, eine eindeutige Antwort zu geben, irgendwie sei er auch beides, sagt er – und das in einem Land, in dem es zwischen Sunniten und Schiiten inzwischen fast täglich zu Gewalt kommt.
Die kosmische Ordnung
Ich besuche Mithu am Tag nach dem Fest. Er wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in zwei winzigen Zimmern in einem ärmlichen Viertel Lahores, das Doppelbett zugleich Eßtisch und Wohnzimmercouch. Unter einem lila schillernden Gewand trägt er zuHause eine Jeans, auf dem Lockenkopf eine Pudelmütze. Um sieben Uhr morgens erst war er zu Hause, was auch seinen Augen anzusehen
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