Ausnahmezustand
ist. Schon Mithus Vater war Trommler, und der Großvater ebenso. Als sein Bruder Gonga taubstumm geboren wurde, brachte der Vater ihn – traurig, daß die Kette beendet zu sein schien – zu seinem Pir. Nach allerhand Ritualen und magischen Beschwörungen prophezeite der Pir feierlich, daß auch aus Gonga Sain ein großer Trommler werde – und nicht nur das: Gonga werde sogar fliegen. Als sie vor ein paar Jahren zu einem Festival nach Europa eingeladen wurden, wußten die Brüder, daß der Pir recht gehabt hatte.
– War ganz schön was los, sage ich, worauf Mithu berichtet, daß die
urs
, die Heiligenfeste, vor zehn Jahren noch größer und vor allem wilder gewesen seien.
Heute hätten viele Leute Angst, daß eine Bombe hochgeht, außerdem sei die wirtschaftliche Lage für die Ärmeren noch schlechter geworden. Und ja, viele hätten sich auch von der Schreinkultur abgewandt. Manchmal höre er jemanden
harâm
rufen, «Sünde», wenn sie bei einem Fest aufträten. Früher hätte es das nicht gegeben, früher hätten die gleichen Leute sie beinah als Heilige verehrt. Das seien sie nicht, natürlich nicht, aber doch
Faqirs
oder Fakire, wörtlich: «Arme», die nach nichts anderem strebten als nach der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen.
Das Verbot, nachts im Schrein des Schah Djamal zu trommeln, wie sie es gewohnt waren, hat keineswegs mit der Angst vor Terroristen zu tun, wie ich annahm. Das Verbot, klärt Mithu mich auf, sei schon zwei Jahre vor dem verheerenden Anschlag auf Data Gandsch Bakhsch, das größte Heiligtum Lahores, ausgesprochen worden. Angeblich hatten sich die Nachbarn von Schah Djamal über die Ruhestörung beschwert, tatsächlich sei es aber um einen Bodenstreit gegangen, und dann habe der Kläger eben die Fatwa eines fundamentalistischen Mullahs besorgt, der das Trommeln für unislamisch erklärte. Aber das sei wirklich nur ein Vorwand gewesen. Und der Beamte des Religionsministeriums, der das Verbot verfügte, sei auf die Musiker schlecht zu sprechen gewesen, nachdemer sie zuvor für eine Hochzeit habe engagieren wollen und sie sich geweigert hätten, mit der Gage herunterzugehen. Der Polizist, der den Schrein absperrte, damit niemand mehr trommelt oder tanzt, sei übrigens kurz darauf erblindet. Für Mithu ist das die Strafe des Heiligen gewesen, der auch Dschule Lal genannt wird, «Roter Tänzer».
– Und seit wann dürft Ihr auf dem Friedhof neben dem Schrein trommeln? frage ich.
Das Ministerium habe bald gemerkt, daß kaum noch jemand den Schrein besuche und entsprechend die Spendenboxen leer blieben, die es verwaltet. Da habe es die Musik wieder erlaubt, wenn auch nur einmal die Woche. Es gehe den Beamten nur ums Geld, um nichts anderes, alle seien sie korrupt. Von
ruhâniyat
, Spiritualität, habe niemand eine Ahnung im Religionsministerium.
– Und der Rhythmus? will ich endlich wissen.
Sie begännen gewöhnlich mit klassischen Rhythmen, erklärt Mithu Sain und schlägt zur Illustrierung mit den Fingern auf seine Oberschenkel, also Fünfern und Sechsern, und dann ginge es darum, diesen Rhythmus zu erweitern, mit Siebenern, Achtern, Neunern, Elfern oder Elfeinhalbern, und zwar spielten sie häufig zwei verschiedene Rhythmen gleichzeitig, deshalb klinge das so kompliziert, und ja, im ersten Teil hätten sie durchaus im Sinn, die Hörer zu beeindrucken, der erste Teil sei noch eher für die Kunst. Wenn dann die Tänzer aufträten, wechselten sie zum Dhammal-Rhythmus, der mit Variationen nur noch wiederholt würde, damit die Tänzer und auch sie selbst in Trance gerieten. Hier entstehe die Verbindung mit dem Heiligen, deshalb würden sie den Dhammal-Rhythmus auch nie zu weltlichen Anlässen spielen, auf einer Hochzeit oder einem anderen Fest.
Mast
sei er dann, «trunken», und eins mit allem, was lebt, zugleich allerdings überwach, im selben Augenblick, nehme jede Bewegung, jeden Ausschlag des Rhythmus, jede Nuance wahr, die sein Bruder Gonga spiele. Erst wenn er trunken sei, sei er wahrhaft gegenwärtig, trommle er nicht selbst, sondern trommle jemand mit ihm.
Manche Leute würden den Sufis vorwerfen, daß sie zu passivseien, weiß Mithu Sain, daß sie sich nicht gegen die Fundamentalisten wehrten, daß sie sich nicht in der Politik engagierten, keine Proteste organisierten, schließlich hänge die Mehrheit der Pakistanis noch immer dem mystischen Islam an. Aber sie seien nicht passiv, beteuert er, sie würden nur in einem anderen System arbeiten, im inneren System:
– Wir
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