Ausnahmezustand
Auch wenn mich niemand zu beachten scheint, ist es beängstigend genug, in einer Menge von sagen wir mal einer Million zu stehen und als sagen wir mal einziger nicht mitzuschreien. Der Koranrezitator, der auf den Einpeitscher folgt, gibt mir Gelegenheit, mich leise mit meinem Nachbarn zu unterhalten. In gütigem Ton erklärt mir der alte Herr, zu welch unfaßbaren Lügen sich die sogenannte grüne Bewegung verstiegen habe, um den überragenden Wahlsieger zu diskreditieren. Akzeptiert man die Grundvoraussetzung, daß bei der Auszählung alles mit rechten Dingen zuging, klingt alles weitere so logisch wie in jeder Verschwörungstheorie.Später wird der Führer sogar die ermordeten Studenten als Märtyrer beweinen, erschlagen von Konterrevolutionären in gestohlenen Uniformen. Die Niedertracht dieser Feinde gehe so weit, daß sie Führer-Parolen gerufen hätten.
Nach dem Gebetssänger tritt erst ein Knabenchor mit vaterländischen Weisen auf, dann ein Elegiensänger im traditionellen Stil, dessen Verse allerdings nicht das Drama des Imam Hossein beweinen, sondern die heutige Auseinandersetzung zum Drama Hosseins stilisieren. Nie wieder wird ein Imam gegen die Übermacht der Feinde verlieren, weil ihn die Gläubigen nie wieder im Stich lassen werden, ein Freudengesang eigentlich, dennoch weinen ringsum die alten Herren wie auf Knopfdruck: Die Passion Hosseins und die Hinterlist der Briten, Amerikaner, Zionisten und Heuchler sind allen Zuhörern in allen historischen Stadien bis in die Gegenwart so vertraut, daß Anspielungen genügen, um alle Bilder zurückzurufen.
Als die Männer gefühlig genug geworden sind, tritt Ajatollah Chamenei auf. Dem dialektischen Verlauf seiner Argumente und der Subtilität der Zwischentöne merkt man die lange Ausbildung an; die schiitischen Seminare sind die einzigen Lehrzentren der Welt, deren Unterrichtsplan seit dem Mittelalter ohne Unterbrechung bis heute auf dem aristotelischen Kanon von Rhetorik, Grammatik und Logik beruht. Im wirkungsvollen Kontrast zu den Vorrednern und zur Dramatik des Ausnahmezustands, in dem sich die Nation befindet, beginnt der Führer mit der Ruhe dessen, der weiß, daß die Hörer an seinen Lippen hängen. Die Zuhörer redet er so direkt und mit warmer Stimme an wie ein väterlicher Freund, beinah wie vorhin der Nachbar, der die Weltkonspiration darlegte. Wie jeder gute Rhetoriker lässt der Führer sie im Unklaren, worauf er hinauswill, zeigt Verständnis auch für die andere Seite, präsentiert sich als unparteiischer Richter, damit das Urteil um so wirkungsvoller ist, zu dem er nach der spannungsvoll gedehnten Exposition ansetzt. Er hat sich entschieden: für die Zuhörer und gegen die Schweigenden. Die Männer ringsum brauchen keinen Einpeitscher mehr, damit sie alle paar Minuten Tod! schreien, TodAmerika, Israel, den Heuchlern und so weiter. Selbst das Glaubensbekenntnis, das an manchen Stellen gefordert ist, ergänzen sie um das Arsenal der Todeswünsche.
Zum Finale wird Ajatollah Chamenei plötzlich ganz still und vermag eben dadurch die Gefühle der Zuhörer noch einmal anzuheizen, die den Siedepunkt doch schon längst erreicht haben. Diese Zurücknahme, das Senken der Stimme auf dem Höhepunkt, um einen weiteren Höhepunkt zu erreichen, ist brillant, als Schriftsteller kann ich es nicht anders sagen. Der Revolutionsführer spricht seinen Vorgänger an, als spräche Imam Hossein zum Propheten: «Oh unser Herr, oh unser Vormund!» Dem Weinen nach zu schließen, ahnen alle, was folgt: «Was ich tun mußte, habe ich getan; was ich sagen mußte, habe ich gesagt.» Imam Hossein zieht in die Schlacht von Kerbala: «Ich habe ein wertloses Leben.» Auch der Nachbar schluchzt ob dieser Demut laut auf. «Ich habe einen geschädigten Körper», steigert der Führer das Mitleid der Umstehenden ins Hysterische, indem er auf seinen Arm anspielt, der seit einem Bombenattentat gelähmt ist. «Ein wenig Ehre habe ich, die ich Ihnen verdanke. Mehr besitze ich nicht, und das werde ich auf dem Wege dieses Islams und der Revolution opfern. Was ich besitze, gehört Ihnen. Oh unser Herr, oh unser Vormund! Verrichten Sie Bittgebete für uns! Sie sind unser Oberhaupt, Sie sind Oberhaupt dieses Landes, Sie sind Oberhaupt dieser Revolution; Sie sind unsere Stütze. Mit Macht werden wir auf diesem Weg fortschreiten. Unterstützen Sie uns mit Ihren Bittgebeten und Mahnungen auf diesem Weg.» Dann rezitiert der Führer die Sure 110, «Wann Hilf’ von Gott kommt und der Sieg»,
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