Ausradiert: Thriller (German Edition)
farblose Zunge schnellte hervor, nur den Bruchteil einer Sekunde. »Ich habe keine von ihnen angerührt. Ich bin unschuldig zum Tod verurteilt – und Sie haben dazu beigetragen, ein fleißiges Rädchen im Getriebe.«
Nick starrte diesen unschuldigen Mann an, einen unschuldigen Mann, in dessen Garten man Teile weiblicher Haut, Gewebe und Knochen gefunden hatte, und die chirurgischen Instrumente kochten noch im Autoklav, als die Spurensicherung eintraf. Aber Nick widersprach nicht, bemerkte nur: »Sie haben nie ein Alibi beigebracht.«
»Meine Verteidigung war eine Farce«, sagte Reasoner.
»Heißt das, Sie hatten Alibis?«, fragte Nick.
Reasoner zögerte, rieb sich das Kinn. Seine Hände waren wohlgeformt, aber sehr klein, standen in keiner Proportion zum Rest von ihm. »Was wollen Sie hier?«
»Ich dachte, das sei für Sie nicht von Belang.«
Reasoner zog eine Brille hervor, setzte sie auf; seine Augen schrumpften hinter den Linsen. »Es gibt nichts, womit Sie mich jetzt noch treffen könnten«, sagte er.
»Stimmt«, gab Nick zu. »Beschäftigen wir uns also mit den Alibis. Wo wollen Sie anfangen – Janet Cody? Cindy Motton? Tiffany LeVasseur? Nicolette Levy? Lara Deems?«
»Das sind für mich nur Namen«, sagte Reasoner.
»Das ist Ihr Alibi?«
»Warum sollte ich Ihnen Einzelheiten erzählen?«, fragte Reasoner.
»Weil ich Ihnen vielleicht helfen kann.«
»Warum sollten Sie das wollen?«, sagte Reasoner. »Mir zu helfen hieße zugeben, dass Sie sich geirrt haben. Sie würden Ihre eigene Integrität untergraben.« Er lächelte, nicht dieses Grinsen, sondern ein echtes Lächeln, erfreut über die Bemerkung, erfreut, Nick in die Ecke gedrängt zu haben.
»Die Wahrheit zu beerdigen untergräbt Integrität«, sagte Nick.
Reasoners Lächeln verblasste. Eine unterschwellige Erregung begann sein Gesicht zu beleben. »Sie geben zu, dass Sie sich geirrt haben?«
»Ich bin darauf eingestellt«, sagte Nick. »Abhängig von dem, was Sie mir erzählen.«
»Warum jetzt?«, fragte Reasoner. »Ich verrotte hier seit zwölf Jahren.«
Doch es sah nicht so aus, als würde er verrotten; Nick war derjenige, der verrottete, von innen verrottete. Diese Art der Betrachtung löste in ihm ein Gefühl der Schwäche aus. Reasoner würde ihn überleben; wahrscheinlich um viele Jahre. Nick saß ruhig da, holte tief Luft, kämpfte um einen klaren Verstand, darum, nicht zu schwanken.
Reasoners Augen wurden schmal. »Was fehlt Ihnen?«
Nick antwortete nicht. Er biss sich fest in die Wange, schmeckte Blut, hoffte, dass der Schmerz die Benommenheit durchdrang.
»Sind Sie krank?«, fragte Reasoner.
Nick holte noch einmal tief und demütigend Luft.
»Doch nicht Krebs?«, fragte Reasoner. Er nahm die Brille ab, spähte durch den wässrigen Schleier zu Nick hinüber. »Krebs!« Er klatschte in die Hände. »Allmächtiger Gott.«
Eine Welle des Zorns erfasste Nick; Juwan hatte recht: Man hätte ihn erschießen sollen, als er Widerstand gegen die Verhaftung leistete. Der Zorn spülte die Ohnmacht hinweg, gab ihm seine Kraft wieder, und mit gesunder, vitaler Stimme, Petrovs Stimme, sagte er: »Gott hat Sie im Stich gelassen. Es geht mir gut.«
»Träumen Sie weiter«, sagte Reasoner. »Im Gefängnis kommt Krebs häufig vor, sehr, sehr häufig. Ich erkenne ihn, wenn ich ihn sehe.« Er nickte. »Und jetzt begreife ich, was hier vorgeht – Sie konvertieren auf dem Sterbebett. Sie wollen die Dinge mit IHM ins Reine bringen.«
Nick beugte sich über den Tisch. Ihre Gesichter befanden sich dicht voreinander. Nick widerstand der Versuchung, ihn in Stücke zu reißen, verdrängte alles bis auf den Fall. »Angenommen, Sie hätten recht«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie lieber die Gelegenheit ergreifen, solange ich noch zur Verfügung stehe.«
Die spitze, farblose Zunge schnellte heraus, leckte Luft, zog sich zurück. Nick nahm Reasoners Geruch wahr, sehr schwach, wie schwacher, gezuckerter Tee. »Welche Gelegenheit?«, fragte Reasoner.
»Ihr Gnadengesuch durchzusetzen«, sagte Nick. »Am Leben zu bleiben.«
Der zuckrige Teegeruch wurde stärker. Nick wurde davon übel, aber er ließ sein Gesicht, wo es war, dreißig Zentimeter von Reasoner entfernt. Wieder die Zunge, suchend; und dann fragte Reasoner: »Was wollen Sie wissen?«
»Ihr Alibi für den Mord an Lara Deems.«
»Warum das?«
»Warum nicht?«, antwortete Nick.
Reasoner saß schweigend da, seine Augen pulsierten leicht, oder zumindest glaubte Nick, dass sie das taten.
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