Aussortiert
aufzustöbern, die irgendwas gesehen haben wollten,
als der Polizei (siehe: Zeugengeld). Prompt gingen die ersten
Denunziantenschreiben und Bekennerbriefe ein, manche Idioten kamen persönlich
zur Wache, um sich zu stellen und laut jammernd ihre Seelenqual
loszuwerden. Das alles mußte bearbeitet werden. Seidel stellte
weiteres Personal ab, das nichts anderes zu tun hatte, als sich um eben
jene Idioten zu kümmern. Wehe, es wäre irgendein noch so kleiner
Hinweis darunter gewesen, der sich nachträglich als doch
ernstzunehmen herausgestellt hätte. Unendlich viel Steuergeld floß
sinnlos in den Orkus, die SOKO LILA nahm ihren Dienst auf.
Die Tatwaffe des
Spielplatzmordes war eine nicht gerade seltene Beretta gewesen. Kein
registriertes Modell.
Nabel und sein Team standen
vor dem Nichts. Die Graphologen stritten noch, ob die Schrift tatsächlich
kindlich oder nur nachgeahmt kindlich war. Eher letzteres.
Immerhin wurde noch in
derselben Woche der Spielplatz an der Frobenstraße (»Hier
finden unsere Berliner Kinder morgens verseuchte Spritzen und benutzte
Kondome!«) mit einem hohen Stahlgitter umzäunt und ab 19 Uhr
abends zugesperrt. Die Anwohner, zu siebzig Prozent Sozialhilfeempfänger,
hatten das zuvor über fünfzehn Jahre lang vergeblich gefordert.
Die Huren waren nun gezwungen, mit ihren Kunden einen Zehnminutenfußmarsch
zum Nelly-Sachs-Park zu machen. Und die Schweinezeitung feierte sich. (»Wir
tun was für die Stadt!«)
Lidia machte das Team darauf
aufmerksam, daß die Opferwahl beim Frobenmord insofern ungewöhnlich
war, als der Täter nicht etwa die Prostituierte, sondern den Freier
erschossen hatte.
Sexuell-religiöse
Aggression eines männlichen Täters würde sich gewöhnlich
heterogen entladen, im Haß auf die Sünderin und Verführerin,
auf die Buhle, biblisch gesprochen, während zum eigenen Geschlecht
selbst in größter Verwirrung eine Art Solidarität zum
Tragen käme.
»Und? Was schließt
du daraus?«
Lidia schloß daraus, daß
der Täter transsexuell sein könnte. Oder aber – daß
er bewußt größtmögliches Aufsehen erregen wollte, größtmögliche
Angst. »Seien wir ehrlich: Wenn es die Hure erwischt hätte, würde
selbst die Schweinezeitung weniger ausführlich berichten. Was ich
nicht so ganz verstehe ist, warum er nicht einfach beide umgebracht hat.
Schon aufgrund der Gefahr, daß sie ihn doch auf irgendeine Weise
wahrgenommen hat.«
»Es war ja ganz finster«,
wendete Nabel ein.
»Dennoch. Es war hell
genug, daß der Killer einen exakten Treffer landen konnte.
Normalerweise ist in solch einer Situation die Angst vor Entdeckung so groß,
daß man schon aus Hysterie beide umbringen würde. Wo Aggression
herrscht und Frustpotential abgebaut wird, kommt es fast immer auch zu
hysterischen Reaktionen. So kaltblütig wäre wohl nicht mal ein
Geisteskranker.«
»Na und? Was willst du
damit sagen?«
»Daß ihm das
Opfer egal war.«
Nabel verstand nicht, und
diesen Zustand konnte er nunmal nicht leiden. »Aber das Opfer war
ihm doch egal. Es hätte irgendeinen Freier treffen können.«
»Ich meine, daß
ihm nicht nur …« Lidia stockte. »Aber vielleicht
verrenn ich mich da. Vielleicht hatte er Ladehemmung nach dem ersten Schuß?
Kai, merkst du was? Ich bin nicht so souverän wie sonst. Der Fall
liegt mir einfach nicht, er legt sich quasi quer in mir. Liebst du mich
trotzdem?«
Nabel erschrak, und sein
Blick nahm Zuflucht in ein menschenleeres Eck des Büros. Lidia
feixte, es war ein flapsiger Spruch gewesen, nichts weiter. Ob sie sein
Zucken bemerkt hatte?
Ahmed war unterwegs, um
routinemäßig im persönlichen Umfeld des toten
Heizungsbauers zu recherchieren. Erwartungsgemäß schien der,
wie die anderen Opfer auch, keine Feinde gehabt zu haben, besser gesagt,
keine nennenswerten. Die Hinterbliebenen schilderten Herrn Nentwig als
treusorgenden Familienvater. Die Witwe verstieg sich gar zur Behauptung,
er sei der Prostituierten bestimmt nur aus Unerfahrenheit gefolgt oder sei
womöglich – ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise – betrunken
gewesen.
Ahmed hätte ihr sagen können,
daß bei der Obduktion ein Promillegehalt von null Komma null
festgestellt worden war, aber er hielt die Klappe und ließ der Witwe
ihr Hintertürchen zum guten Glauben offen.
Ahmed wußte, daß
das, was er hier tat, nur ein besseres Beschäftigungsprogramm war.
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