Aussortiert
täglich mehr als zwei Blätter zugestellt
bekamen. Das waren eine ganze Menge, vorrangig Schauspieler. Immer neue
Zeugen meldeten sich nun, die irgendwen gesehen haben wollten oder im
Leben einfach schon zuviel gesehen hatten; sie bereiteten den
Polizeizeichnern Überstunden ohne Ende. Manche dieser Wichtigtuer
hofften vielleicht darauf, daß irgendwann der gefaßte Mörder
jenem Bild ähnlich sehen würde, das sie herbeiphantasierten, die
meisten wollten ihrem grauen Alltag entfliehen oder einfach nur jemanden
zum Plaudern haben. Auch Hellseher boten ihr entlegenes Talent an.
Nabel faßte einen auf
zwischenmenschlicher Ebene tiefgreifenden Entschluß. Mit dem Fall
hatte das höchstens am Rand zu tun, aber die Gelegenheit war günstig,
angesichts der herrschenden Stagnation. Die Sache fiel ihm nicht leicht,
sein Magensäurespiegel stieg, und er sah sich gezwungen, weniger
scharf zu essen als üblich.
»Lidia?«
»Hmm?« Sie konnte
vor Erschöpfung kaum noch aus den Augen sehen, ihre Schultern
zitterten manchmal.
»Kommst du heute bitte
in meine Wohnung, irgendwann nach Dienstschluß? Ich muß dich
sprechen.«
»Worum gehts denn?«
»Nicht hier. Bei mir?
Um neun?«
Lidia dachte sich mordsweißwas,
aber natürlich kam sie, wenn auch unwillig und ungeschminkt, um keine
mißverständlichen Zeichen zu setzen. Nabel öffnete die
Flasche Margaux ’94, die ihm Seidel zur Beförderung geschenkt
hatte.
Die beiden nahmen in der
schmalgeschnittenen Küche Platz, Nabel suchte den Klassiksender im
Radio und stellte eine Dose dänischer Butterkekse auf den Tisch.
Deren Haltbarkeitsdatum war erst vor zwei Wochen abgelaufen. Lidia fuhr
mit der Kuppe ihres rechten Zeigefingers über die grasgrüne
Wachstischdecke, reckte ihn vorwurfsvoll in die Höhe und wischte den
Staub an einem Tempotaschentuch ab.
»Jetzt bin ich aber
gespannt, Kai.«
»Ich auch. Laß
uns mal ein Glas trinken, auf deine Gesundheit!«
»Auf meine Gesundheit?«
»Ja.«
»Dann doch lieber auf
unsere Gesundheit, oder?«
»Von mir aus. Aber
darum geht es heute nicht.«
Lidia sagte nichts dazu und
kostete. Der Wein schmeckte leicht korkig und depressiv.
»Hör zu«,
begann Nabel und suchte nach Worten, nach dem richtigen Anfang.
»Ja?«
»Wie soll ich das
sagen? Also, hör zu …«
»Das sagtest du
bereits. Ich höre zu.«
»Du arbeitest viel und
sehr gut, du – ach, verflucht, ich bin dein Freund, ja?«
»Hoff ich doch.«
»Was wir hier bereden,
ist streng privat, und ich, also, du kannst völliges Vertrauen zu mir
haben, klar?«
»Spucks einfach aus.«
»Es geht mich
eigentlich nichts an, andererseits aber doch, weil es sonst vielleicht
bald andere angehen würde, denen du nicht so vertrauen kannst wie
mir, okay?«
Lidia streckte ihren Oberkörper
gerade und preßte den Rücken gegen die Stuhllehne, sie nahm
billigend in Kauf, daß ihre an sich kleinen Brüste auf diese
Weise überbetont wurden.
»Worauf willst du bloß
hinaus?«
»Du mußt es doch
wissen. Du weißt es ganz genau!«
»Dann red doch einfach.«
Eine kleine Pause entstand,
beide sahen sich gespannt an und erwarteten vom anderen, daß er die
Karten auf den Tisch legen würde.
»Schau, Lidia, ich bin
nicht blind. Und ich habe vollstes Verständnis, du hast ein Problem,
und das ist dein Problem, aber wir sollten darauf achten, daß es
dein Problem bleibt.«
»Was willst du?«
»Du kokst, Lidia.«
»Was?« Lidia
Rauch erhob sich von ihrem Stuhl, mit empört geöffnetem Mund.
»Jetzt spiel kein
Theater. Ich bin nicht dein Richter, und das ist kein Verhör. Ich hab
es schon länger gewußt, und du bist sehr vorsichtig gewesen. In
letzter Zeit warst dus eben nicht mehr. Glaub mir, ich hab selber
Erfahrungen gemacht, aller Art, ich rede nicht dumm daher. Anfangs denkt
man, das sei eine Kleinigkeit, leicht zu kontrollieren, aber so leicht
macht es dir die Droge nicht. Dein Konsum hat sich gesteigert, gib es
einfach zu, und laß uns reden.«
Lidia wartete eine halbe
Minute, schweigend, erstarrt, ohne jedes Mienenspiel, dann setzte sie sich
wieder. Und schenkte sich ein zweites Glas ein.
»Du hast überhaupt
kein Recht, dich über mich zu beschweren, oder?«
Nabel lächelte, so
jovial wie es ihm möglich war. »Nein, gar nicht. Aber du bist
siebenundzwanzig. Laß dir von einem schon älteren Mann mit
Zukunftsangst etwas sagen, ja?«
»Komm ich
Weitere Kostenlose Bücher