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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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geeigneter Adressat einfiel, daran dachte sie keinen
     Augenblick. Und selbst wenn – es wäre für sie völlig
     in Ordnung gewesen.
    Während Kistner an
     seiner Kolumne für die morgige Ausgabe arbeitete, durfte man ihn
     unter keinen Umständen stören, außer etwas Wichtiges
     passierte. Es lag in Frau Hagenbecks Kompetenz, zu entscheiden, was
     wichtig war, was nicht. Grenzfälle konnte sie nicht ausstehen, weil
     die sie zwangen, Verantwortung zu übernehmen.
    Kurz vor Feierabend kam ein
     Mail von Ahmed Müller-Dogan herein. Genau so ein Grenzfall.
    Ich habe es mir überlegt.
     Es gibt etwas Wichtiges. Wollen wir uns noch einmal treffen, selber Ort,
     22 Uhr?
    Frau Hagenbeck, die die
     eintreffenden Mails sortierte und grobe Beschimpfungen einfach löschte,
     hatte zwar im Gefühl, daß dieses Mail nun gerade nicht so
     besonders wichtig sei, allerdings behauptete der Text frech und anmaßend
     das Gegenteil. Sie rang mit sich, schnaufte, seufzte, stand auf, klopfte,
     trat ein und las Kistner die Nachricht laut vor. Der dachte kurz nach,
     seufzte auch, dann ließ er in rekordverdächtiger Kürze
     antworten: Okay.
    Lidia wollte vor sich selbst
     ein Zeichen setzen, streute den Restinhalt des Kokstütchens ins Klo,
     spülte und nahm sich einen Tag frei bzw. meldete sich krank. Zum
     ersten Mal in ihrer Laufbahn beschloß sie, ihre Pflichten zu
     vernachlässigen, einfach auszuschlafen, und ging noch vor Mitternacht
     zu Bett.
    Das Täterprofil, das sie
     mit zwei Kollegen angefertigt hatte, mußte nicht unbedingt auf
     objektiven, gesicherten Fakten beruhen, anders als die Tatort-,
     Tathergangs- und Fallanalyse. Es gab einen Aspekt bei der Arbeit, der
     unwissenschaftlich genannt werden konnte, der sich auf Erfahrungswerte und
     Einfühlungsvermögen berief und einen gewissen
     Unsicherheitsfaktor in Kauf nahm. Was die einen Sensibilität nannten,
     war für die anderen Phantasie, auch spielte die psychologische
     Glaubensrichtung des Profilers eine Rolle. Unterschiedliche Lehrmeinungen
     konkurrierten in wichtigen Fragen, zum Beispiel, ob bei
     Vergewaltigungsdelikten an Frauen Homosexuelle, wie man früher
     geglaubt hatte, als Täter grundsätzlich auszuschließen
     seien.
    Es bedurfte langer
     Diskussionen, um ein Profil zu erstellen, das wenigstens keinen Schaden
     verursachte, indem es die Ermittlungen in eine grundfalsche Richtung
     lenkte.
    Das Alter des Täters,
     dessen Geschlecht, sozialer Status, Beruf, sein Bildungsstand, seine
     Lebensweise, all das sollte auf vernünftige Parameter eingegrenzt
     werden. Der vorliegende Fall ließ nur Spekulationen zu, doch die
     Dienststelle drängte allzubald auf etwas Handfestes. Also einigte man
     sich auf männlich, Ende zwanzig bis Mitte vierzig, sozial
     unterprivilegiert, aber vor sich selbst zu Höherem berufen, ein Beruf
     der mit Schreibarbeit zu tun hat, durchschnittliche Bildung, unscheinbare
     Lebensweise ohne Hang zu physischen Exzessen, einhergehend mit
     unausgelebten Triebbedürfnissen.
    Lidia war so unzufrieden mit
     sich selbst wie selten zuvor in ihrem Leben. Dieses Profil war sein Papier
     nicht wert. War dahergebrabbeltes Gewäsch. Sie hatte darauf plädiert,
     der Täter müsse überdurchschnittlich intelligent sein, war
     aber gegenüber den Kollegen nicht überzeugend genug aufgetreten.
     Vielleicht, mutmaßte sie selbstkritisch, hatte sie ihr eigenes
     Versagen kaschieren wollen, indem sie dem Killer übermäßige
     Raffinesse attestierte. Mochte sein. Wußte Kai, oder ahnte er
     wenigstens, in welchem Dilemma sie sich befand? Zuweilen waren ihre Gefühle
     für ihn beinahe töchterlich, dann wünschte sie sich, er fände
     niemals Grund, an ihr zu zweifeln, könne vielmehr auf sie vertrauen,
     immer.    
    Lidia, am Ende ihrer Kraft,
     fiel in tiefen Schlaf, für vierzehn Stunden.
    Kistner nahm diesmal seinen
     eigenen Wagen, das Porsche-Cabrio, parkte an der Baerwaldbrücke und
     marschierte zum Kinderspielplatz. Am Kanalufer gegenüber saßen
     Hunderte meist jugendlicher Menschen, die im Gras über kleinen Feuern
     Würste und Marshmallows grillten oder auf den beiden von bunten
     Lichterketten illuminierten Restaurantschiffen die Sommernacht feierten.
     Geschrammel schlecht gestimmter Gitarren klang über das Wasser, das
     zu schmutzig war, um darin zu baden. Einige angesoffene Idioten störte
     das nicht, sie machten Kopfsprünge mitten zwischen die fett
     dekadenten Schwäne hinein, die, ohne wirklich Hunger zu haben,

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