Aussortiert
geeigneter Adressat einfiel, daran dachte sie keinen
Augenblick. Und selbst wenn – es wäre für sie völlig
in Ordnung gewesen.
Während Kistner an
seiner Kolumne für die morgige Ausgabe arbeitete, durfte man ihn
unter keinen Umständen stören, außer etwas Wichtiges
passierte. Es lag in Frau Hagenbecks Kompetenz, zu entscheiden, was
wichtig war, was nicht. Grenzfälle konnte sie nicht ausstehen, weil
die sie zwangen, Verantwortung zu übernehmen.
Kurz vor Feierabend kam ein
Mail von Ahmed Müller-Dogan herein. Genau so ein Grenzfall.
Ich habe es mir überlegt.
Es gibt etwas Wichtiges. Wollen wir uns noch einmal treffen, selber Ort,
22 Uhr?
Frau Hagenbeck, die die
eintreffenden Mails sortierte und grobe Beschimpfungen einfach löschte,
hatte zwar im Gefühl, daß dieses Mail nun gerade nicht so
besonders wichtig sei, allerdings behauptete der Text frech und anmaßend
das Gegenteil. Sie rang mit sich, schnaufte, seufzte, stand auf, klopfte,
trat ein und las Kistner die Nachricht laut vor. Der dachte kurz nach,
seufzte auch, dann ließ er in rekordverdächtiger Kürze
antworten: Okay.
Lidia wollte vor sich selbst
ein Zeichen setzen, streute den Restinhalt des Kokstütchens ins Klo,
spülte und nahm sich einen Tag frei bzw. meldete sich krank. Zum
ersten Mal in ihrer Laufbahn beschloß sie, ihre Pflichten zu
vernachlässigen, einfach auszuschlafen, und ging noch vor Mitternacht
zu Bett.
Das Täterprofil, das sie
mit zwei Kollegen angefertigt hatte, mußte nicht unbedingt auf
objektiven, gesicherten Fakten beruhen, anders als die Tatort-,
Tathergangs- und Fallanalyse. Es gab einen Aspekt bei der Arbeit, der
unwissenschaftlich genannt werden konnte, der sich auf Erfahrungswerte und
Einfühlungsvermögen berief und einen gewissen
Unsicherheitsfaktor in Kauf nahm. Was die einen Sensibilität nannten,
war für die anderen Phantasie, auch spielte die psychologische
Glaubensrichtung des Profilers eine Rolle. Unterschiedliche Lehrmeinungen
konkurrierten in wichtigen Fragen, zum Beispiel, ob bei
Vergewaltigungsdelikten an Frauen Homosexuelle, wie man früher
geglaubt hatte, als Täter grundsätzlich auszuschließen
seien.
Es bedurfte langer
Diskussionen, um ein Profil zu erstellen, das wenigstens keinen Schaden
verursachte, indem es die Ermittlungen in eine grundfalsche Richtung
lenkte.
Das Alter des Täters,
dessen Geschlecht, sozialer Status, Beruf, sein Bildungsstand, seine
Lebensweise, all das sollte auf vernünftige Parameter eingegrenzt
werden. Der vorliegende Fall ließ nur Spekulationen zu, doch die
Dienststelle drängte allzubald auf etwas Handfestes. Also einigte man
sich auf männlich, Ende zwanzig bis Mitte vierzig, sozial
unterprivilegiert, aber vor sich selbst zu Höherem berufen, ein Beruf
der mit Schreibarbeit zu tun hat, durchschnittliche Bildung, unscheinbare
Lebensweise ohne Hang zu physischen Exzessen, einhergehend mit
unausgelebten Triebbedürfnissen.
Lidia war so unzufrieden mit
sich selbst wie selten zuvor in ihrem Leben. Dieses Profil war sein Papier
nicht wert. War dahergebrabbeltes Gewäsch. Sie hatte darauf plädiert,
der Täter müsse überdurchschnittlich intelligent sein, war
aber gegenüber den Kollegen nicht überzeugend genug aufgetreten.
Vielleicht, mutmaßte sie selbstkritisch, hatte sie ihr eigenes
Versagen kaschieren wollen, indem sie dem Killer übermäßige
Raffinesse attestierte. Mochte sein. Wußte Kai, oder ahnte er
wenigstens, in welchem Dilemma sie sich befand? Zuweilen waren ihre Gefühle
für ihn beinahe töchterlich, dann wünschte sie sich, er fände
niemals Grund, an ihr zu zweifeln, könne vielmehr auf sie vertrauen,
immer.
Lidia, am Ende ihrer Kraft,
fiel in tiefen Schlaf, für vierzehn Stunden.
Kistner nahm diesmal seinen
eigenen Wagen, das Porsche-Cabrio, parkte an der Baerwaldbrücke und
marschierte zum Kinderspielplatz. Am Kanalufer gegenüber saßen
Hunderte meist jugendlicher Menschen, die im Gras über kleinen Feuern
Würste und Marshmallows grillten oder auf den beiden von bunten
Lichterketten illuminierten Restaurantschiffen die Sommernacht feierten.
Geschrammel schlecht gestimmter Gitarren klang über das Wasser, das
zu schmutzig war, um darin zu baden. Einige angesoffene Idioten störte
das nicht, sie machten Kopfsprünge mitten zwischen die fett
dekadenten Schwäne hinein, die, ohne wirklich Hunger zu haben,
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